Letzte Woche war ich im Hamburger Mojo-Club, wo DIIV gespielt haben. DIIV ist eine US-amerikanische Band, die von Zachary Cole Smith als Mastermind und Strippenzieher vor mehr als 10 Jahren gegründet wurde und mit Oshin ihr großartiges Debüt veröffentlicht hat. Mit ihrem letzten Album Deceiver sind sie aber endgültig in Richtung des Genres abgebogen, das schon immer durch ihre Songs schimmerte: Shoegaze. Inzwischen schreiben sie ihre Musik demokratisch als Kollektiv, und das Ergebnis ist wunderbare, honigwabenartige Gitarrenmusik, die innerhalb der zwei großen Kirchen des Shoegaze der Tradition des Noise von My Bloody Valentine näher steht als dem Dream von Slowdive. Die Gitarrensignale werden durch zahlreiche Effektgeräte gezirkelt, bis sie extraterristischen Signalen näher stehen als sogenannter ‚handgemachter‘ Rockmusik. Der Hall ist auf Endlosschleife hochgeregelt, und die Stimme – das soll für diesen Text zentral sein – wabert irgendwo als zarter Hall in den Hintergrund gemischt vor sich hin. Die Lyrics sind nicht irrelevant, aber spielen eine untergeordnete Rolle. Sie sind keine Poesie im engeren Sinne, sondern atmosphärische Zeichen, die den Sound vertiefen. Also das Gegenteil von einem großen Teil melancholischer Popmusik, in der zuerst die Textzeile über das Verlassenwerden steht und dann zwei, drei Mollakkorde folgen, um dem Wort ‚Tiefe‘ zu verleihen.
Nach dem (nebenbei bemerkt: fantastischen – aber das soll kein Konzertreport werden) Konzert tauchten die Menschen aus ihrem soundwallartigen K-Hole wieder auf, und der Club leerte sich langsam. Erste Eindrücke verbalisierten sich in der Luft. Zufriedenheit. Nur eine Kritik gab es: Das Mikrofon, also der Gesang, also die Lyrics, die wären zu leise gewesen. Man hätte nichts verstehen können. Diese im Vorbeigehen aufgeschnappten Zeilen blieben bei mir hängen. Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, dass man bei einem Shoegaze-Konzert ausgerechnet die Klarheit der Vocals vermissen könnte, inmitten der außerkörperlichen Erfahrung einer Wall of Sound, die sich um einen legt, wie eine warme, verschwommene Umarmung. Aber für so viele Menschen scheint der Text eines Songs so etwas wie seine Essenz, sein schwirrendes Zentrum, zu sein, um das der Klang zu kreisen hat wie Planeten um ihren Stern. Warum nur hat kein Liebespaar seinen typischen ‚Unser Song‘-Moment, beim Hören eines Sounds? Warum passiert das immer bei einer Textzeile? „To die by your side is such a heavenly way to die.“ Dabei gäbe es doch wenig Schöneres als es zu fühlen, während sich die Euphorie bahnbrechend in dem Moment, wenn in Fishmans Long Season nach knapp zweieinhalb Minuten das Piano einsetzt.
Sound versus Lyrics
Die Frage nach dem Verhältnis von Sound und Text in der Popmusik und auch in der Musikkritik interessiert mich schon länger. Etwas so Abstraktes wie die Wirkung von Sound und Klang in die konkrete Form des Wortes zu gießen, ohne dass dabei so etwas wie die Essenz verloren geht, ist schwierig. Schiefgehen kann vieles. Texte über Musik, die eigentlich nur ein subjektivistischen Abgleich der Lyrics mit den eigenen Befindlichkeiten durchführen und dabei, was den Sound angeht, höchstens noch den Stil des Gesangs oder gar nur der Stimme miteinbeziehen. Das ist der Hörer von “Your Deep Rest” von The Hotelier, der auf dem Schmerz in der Stimme von Christian Holden verweist, wenn sie in einem karthatischen Moment mit brechender Stimme “I called in sick from your funeral” schreit. Denn den Schmerz habe man als 20-Jähriger schließlich selbst verspürt.
Trostloser noch wird es, wenn man sich die sogenannte politische Musik anschaut. Die Exegese geht dann nicht selten nur noch so: Man liest den Text eines Songs und schaut, ob dieser mit dem zusammenpasst, was man irgendwo während irgendeines wahlweise Soziologie- oder Geschichtsseminars aufgeschnappt hat. Dann referenziert ein Lyricfetzen in einem fuchtbaren Beispiel politischer Nicht-Musik wie Danger Dans “Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt” plötzlich schon mal auf “intelligente Weise” die Dialektik der Aufklärung – und das soll dann auch noch etwas Gutes sein. Und am Ende wollen sie einen überreden, Billy Bragg nicht grässlich zu finden. Manchmal frage ich mich, was solche Kritiker über einen Song wie “Mladic”, mutmaßlich benannt nach dem bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher gleichen Namens, von Godspeed You! Black Emperor schreiben würden. Denn das ist politische Musik, die sich nur durch ihren Sound, ganz ohne Text und ohne Vocals-Samples, in 20 wütenden Minuten in ein politisches, apokalyptisches Wutgefühl hineineskaliert, wie es keine andere Kunstform in dieser Form (und darum geht es) vermag. “I’d punch a Nazi to Mladic” schrieb ein User auf Reddit – und wer einmal hört, wird es fühlen.
Natürlich gibt es auch unzählige Texte, in denen Autor*innen Worte finden, die Musik als Sound auf eine Weise erfassen, die so gut ist, so perfekt passende Bilder in meinem Kopf produziert, dass ein Hören der Alben, ohne diese textförmigen Begleitbilder, für mich unmöglich wird. Aphex Twins Selected Ambient Works Vol. II wurde mal von Richard D. James selbst perfekt mit “standing in a power station on acid” umschrieben. Wer einmal die schimmerig-sirrenden Klanglandschaften, die James dort aufbaut durchschritten hat und nach Worten ringt, wird sich vermutlich in genau dieser Umschreibung verstanden fühlen. Oder Mark Fishers Gedanken zu der “unheiligen Dreifaltigkeit” von The Cure – gemeint sind die drei aufeinander folgenden Alben Seventeen Seconds, Faith und Pornography. Über das in diesem Dreigestirn tendenziell am wenigsten besprochene mittlere Album schreibt Fisher, die Lieder klängen “nicht still, sondern beruhigt, schwer wie ein Downer; nicht ozeanisch, sondern durchtränkt wie ein Sumpf”. Faith scheine “von einem anderen Planeten zu kommen, wo die Gravitation schwerer wiegt”. Dieser Text hat das Album in meiner Rezeption um Dimensionen verschönert und, soweit würde ich gehen, überhaupt erst den Raum geschaffen, in dem es mittlerweile zum für mich besten Werk der Band und einem meiner liebsten Alben generell heranreifen konnte.
Der Möglichkeitsraum, das Werkzeug, das alles liegt schon da. Und wird doch, das zumindest ist mein Eindruck beim Lesen vieler Texte über Musik, meist genutzt, um Klänge umzuschnitzen in Gedichte, anstatt ihnen ihre Anders- und Einzigartigkeit zuzugestehen. Gedichtanalyse statt Soundexegese.
More Brillant Than the Sun
In seinem musikbewusstseinserweiternden Buch More Brilliant Than the Sun (oder in der genialen Übersetzung von Dietmar Dath: Heller als die Sonne) schreibt der britische Kulturtheoretiker und Künstler Kodwo Eshun über die Verbindung zwischen Afrofuturismus, Science Fiction und schwarzer elektronischer Musik. Eshun erkundet in seinem Buch, wie die afrikanische Diasporakultur eine soundästhetische Revolution in Gang setzt, die herkömmliche Grenzen sprengt und eine futuristische Klanglandschaft erschafft. Dieser Analyse vorangestellt ist allerdings eine Kritik am (weißen) Gegenwartsmusikjournalismus, in der er auch die Bevorzugung des Songtextes über den Klang adressiert:
Seit den 80er Jahren hat sich die britische Mainstream-Musikpresse der schwarzen Musik höchstens zur Erholung und zum Ausspannen von den Komplexitäten der weißen Gitarrenrockmusik zugewandt. In dieser lächerlichen, auf den Kopf gestellten Welt bleibt es Gitarren vorbehalten, den Zeitgeist auszudrücken, während die Rhythmaschine in retardierter Unschuld gefangengehalten wird. Ein Songtext bedeutet stets mehr als ein Sound. Die Texte zu theoretisieren ist gestattet, aber den Groove zu analysieren hieße angeblich den körperlichen Genuss zu vernichten, dem Groove die Essenz auszupressen.
Kodwo’s Buch liefert neben der Kritik am schreiberischen Konsens mit der Erfindung zahlreicher Neologismen auch gleich noch das Vokabular mit, um endlich anders über Musik nachdenken zu können. Da werden Beats zu Futurhythmaschinen, der US-amerikanische elektronische Jazz zwischen 1968 und 1975 zu afrodelischen Weltraumprogrammen oder George Russels Electronic Sonata for Souls Loves by Nature als panstilistische Fragmentmusik gedeutet. Alles geht, solange die neue Sprache eine Annäherung an den Sound ermöglicht. Ein anderes Hören. Ich persönlich habe mehrere Anläufe, egal ob auf Englisch oder Deutsch, gebraucht, um Eshuns Werk zu bezwingen. Das lag einfach daran, dass die Art, in der da versucht wird, über Musik und Kultur nachzudenken, nicht nur anders schmeckt als die Speisen, die sonst serviert werden, sondern gleich einen völlig anderen Aggregatzustand hat. Man fühlt sich zunächst wie ein Mann mit einem Löffel in einer Welt voller Suppe (Noel Gallagher beschrieb so einmal seinen Bruder Liam. Und auch, wenn ich sonst kein großer Oasis-, geschweige denn Gallagher-Gossip-Fan bin, muss ich im Alltag oft an diesen Satz denken). Und dann lernte ich die Sprache, später verstand ich. Zumindest ein wenig. So schwierig und theoretisch komplex Eshuns Werk für mich war, wünsche ich mir doch mehr von solchen Wagnissen und Experimenten zu finden auf meinen Streifzügen durch die popkulturellen Landschaften.
Leerstellen für Fantasie
More Brilliant Than the Sun war einer dieser Momente, in denen ich erstmals das Gefühl hatte, etwas in konkrete Worte gegossen zu sehen, das sich für mich schon lange wie eine abstrakte Dissonanz zwischen meinem und dem Musikhören der meisten meiner Freund*innen anfühlte, aber von mir nie so richtig auf den Punkt artikuliert werden konnte wie von Kodwo Eshun. Dieser Fokus auf die Lyrics, den ich – auch wenn Eshun natürlich aus einer anderen Richtung kommt und viel weiter geht – nie wirklich gefühlt habe. Englisch ist nicht meine Muttersprache, und das Hören von englischsprachiger Musik war für mich dementsprechend ein ausschließlich auditiver Prozess. Meine Mutter hatte irgendwann einmal – ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt – Room on Fire von den Strokes und Jimmy Eat Worlds Clarity als gebrannte, unbeschriftete (ich wusste also jahrelang nicht mal annähernd, was ich da hörte) CDs von einem Freund geschenkt bekommen. Das waren meine beiden Lieblingsalben, und ich verstand: Nichts. Aber fühlte alles – nur über den Sound (einige Zeit später wurden sie dann von der Eminem Show abgelöst. Und auch da verstand ich natürlich weiterhin nichts). Ich weiß heute immer noch nicht, um was genau es in „12:51“ geht, aber bin mir sicher, dass es in dieser coolen, wie beiläufig performten Art mein Lieblingssong von den Strokes ist. Und bis heute liebe ich diesen Zwischenzustand des Nicht-ganz-Verstehens und habe umgekehrt oft das Gefühl, dass eine allzu große Kenntnis der meisten Songtexte die Musik für mich eher verzwergt, als sie zu erweitern.
Deshalb stört es mich nicht nur nicht, bei einem DIIV-Konzert die Lyrics nicht zu verstehen, ich finde das sogar gut (lustigerweise gab es in der ansonsten atmosphärisch-verwaschenen Lichtshow zwischendurch auch Passagen, in denen die Lyrics der neuen Songs karaokemaschinenartig eingebunden wurden. Das waren nicht die elegantesten Momente). Erst die Leerstellen lassen das Licht hinein und laden ein in Gitarrenwände, die stets drohen, die gehauchten Vocals zu verschlingen, zu versinken.