Wasting the Weekends #2: 8 Takeaways vom Primavera Sound Festival 2024

What’s up, willkommen zur zweiten Ausgabe von Wasting the Weekends – dem schriftlichen Versuch, meine Hörerlebnisse der letzten Zeit ein wenig zu ordnen und inmitten des aufmerksamkeitsspannen-zersetzenden Alltags zu konservieren. Und nebenbei sollte dann auch noch so etwas wie ein kleines Empfehlungsschreiben der besten und interessantesten Popmusik, die es aktuell zu hören gibt, herausspringen. Diese Woche geht es monothematisch zu, denn ich war mittlerweile zum 8. Mal beim Primavera Sound in Barcelona. Das Primavera Sound ist für mich in seiner Mischung aus Städtetrip in eine der schönsten Städte Europas, Strandurlaub, gutem Essen, Ferienwohnung statt Zelt, einzigartigen Clubkonzerten und dem Jahr für Jahr – trotz aller Veränderungen – besten Line-Up der Welt mein absolutes Lieblingsfestival.

Viel hat sich verändert, seitdem ich 2015 das erste Mal vor Ort war – und schon damals wurde mir von denen, die noch länger da waren, gesagt, nichts mehr sei wie früher. Alles zu groß, zu viele Bühnen, zu viele Menschen. In den Jahren, die ich Barcelona mittlerweile besuche, ist aus einem Indie-Festival, auf dem Menschen mit Bandshirts von obskuren 90er-Noiserock-Bands rumlaufen, ein Indie-Festival, auf dem Menschen mit Bandshirts von obskuren 90er-Noiserock-Bands rumlaufen, das aber in ein viel größeres Festival slash Lifestyle-Event integriert ist, geworden. For the better and for the worse. Musikalisch war ich immer Unterstützer der Neuausrichtung hin zu mehr Pop, mehr schwarzer Musik, mehr Weiblichkeit, Queerness etc. Auch die damit einhergehende Veränderung weg von einer recht homogenen, eher männlichen Indie-Crowd und hin zu einem sehr queeren, diversen Publikum empfand ich immer als angenehm – von der gesellschaftlichen Relevanz mal abgesehen.

Trotzdem: Insgesamt mochte ich das Festival früher ein wenig lieber, als die Musik noch trotz allem Sponsorings der absolute Mittelpunkt der Veranstaltung war. In den Jahren ist aus dem Musikfestival ein globales Unternehmen geworden, das Gelände wirkt ziemlich überfrachtet, was zu Soundmatsch führt, und vielerorts scheint das Lifestyle-Event wichtiger zu sein als die Musik an sich. Dennoch hatte ich wieder einmal eine absolut fantastische Woche und habe wahnsinnig viel gute Live-Musik gesehen. Zu viel, um über alles zu schreiben, deshalb hier acht Takeaways meines diesjährigen Besuchs des besten Festivals der Welt.

1. Allein das, was ich nicht gesehen habe, würde eines der besten Line-Ups des Jahres für mich sein

Einer der schönsten und traurigsten Tage des Jahres für Primavera-Gänger*innen liegt meist ungefähr zwei Wochen vor dem eigentlichen Festival: die Veröffentlichung des Timetables. Man kann anfangen, akribisch zu planen, Clashfinder durchforsten, sich noch in Acts reinhören mit der Gewissheit, sie auch tatsächlich sehen zu können, sich vorfreuen. Die Schattenseite dieses Tages liegt darin, dass leider auch klar wird, was man alles verpassen wird. „Weine nicht über verpasste Acts, sondern freue Dich über all das, was du sehen kannst“ ist leichter gesagt als getan, wenn in die erste Kategorie Beth Gibbons fällt.

Die Portishead-Sängerin, vermutlich meine Lieblingsvokalistin überhaupt, würde man mich unter Drohungen zwingen, eine zu wählen, hat am Donnerstag ihre einzige Festivalshow in diesem Jahr auf der ehemaligen Ray-Ban-Stage, einer amphitheaterartigen Bühne mit Blick aufs Mittelmeer und für mich die vielleicht schönste Festivalstage überhaupt, gespielt. Ich war stattdessen bei Vampire Weekend (es war fantastisch und ich bereue nichts) und habe auf dem Rückweg am akustischen Horizont noch die ersten Takte von Portisheads „Roads“ vernehmen können. Nicht nur, dass sie Songs ihres großartigen, vor einigen Wochen erschienenen Albums Lives Outgrown gespielt hat, nein, jetzt auch noch fucking Portishead.

Aber wäre ich weder bei Vampire Weekend noch Beth Gibbons gewesen, hätte man mich in ätherischer Glückseligkeit schwelgend bei den eigentlich immer obskuren, aber kürzlich zu TikTok-Fame gelangten 90er-Slowcore-Ikonen Duster finden können, die auf der kleinsten Festivalbühne ihr erstes und wohl auch einziges Europa-Konzert überhaupt (die Band gibt es seit 1996) gespielt haben. Oder im Warehouse, einer beton-brutalistischen Tiefgarage, die während des Festivals zu dem wird, was am ehesten einem Berliner Club entspricht, bei der Hyperdub-Labelnacht. Dort haben unter anderem Aya, Nazar, Kode9 und Tim Reaper, also so ziemlich die coolste gegenwärtige elektronische Musik made in UK überhaupt, aufgelegt. Oder eben Billy Woods, dessen Verpassen zum Glück nur halb so weh tat wie befürchtet, weil er am Vorabend noch ein Armand Hammer-Set im Club gespielt hatte. Ihr seht also: Schönheit und Schmerzen liegen nah beieinander hier – oft nur einige hundert Meter.

2. Egal in welcher Phase meines Musikhörens ich mich gerade befinde, das Primavera ist immer ein perfektes Match

Musikhören läuft bei mir oft in Phasen ab, die irgendwann anfangen und dann einige Monate später abrupt aufhören können. Also höre ich einige Monate superviel Jungle, dann ändert sich mein Fokus auf gegenwärtigen Jazz, dann wieder viel Punk und so weiter. Das wird dann davon begleitet, dass ich in der Zeit oft viel Literatur über die jeweiligen Szenen, Genres, Musiker*innen etc. lese, Podcasts höre, Videos schaue, durch Rate Your Music doomscrolle. Je nachdem, in welcher Phase ich mich befinde, ändert sich natürlich auch mein Plan für all das, was ich im jeweiligen Primavera-Jahr gern sehen würde.

Letztes Jahr habe ich im ersten Halbjahr superviel Hip-Hop gehört und dementsprechend auf dem Festival meine Entscheidungen getroffen: Pusha T statt Turnstile, Baby Keem statt Julia Holter, lieber JPEGMAFIA und nicht Jayda G, Kendrick und nicht Four Tet. Wäre ich zum gleichen Festival jetzt gefahren, wäre sicher alles anders gekommen, denn aktuell höre ich wieder superviel gitarrenaffine Alternative Music. Mit der Hip-Hop-Phase aus 2023 hätte man mich bei dieser Ausgabe sicher bei Madlib & Freddie Gibbs, die zum zehnjährigen Geburtstag ihr Meisterwerk Piñata komplett gespielt haben, bei Clips und ihrem exklusiven Europa-Gig oder Roc Marciano gefunden, war ich stattdessen woanders: bei Scowl, Militarie Gun, Mannequin Pussy und Wiegedood, bei Vampire Weekend und Yo La Tengo.

Was mich jedes Jahr wiederkommen lässt, ist – neben der Stadt, dem Wetter, dem Gelände, all dem – genau das: diese riesige Breite UND Tiefe UND Vielfalt. Selbst als J-Pop-Enthusiast kannst du hier das erste Europa-Konzert überhaupt von den großartigen Atarashii Gakko! sehen. Es gibt unzählige Pfade durch das Wochenende, sodass es wirklich schwer ist, keine absolut gute Zeit zu haben.

PJ Harvey im strömenden Regen mit einem All-Time-Primavera-Konzert

3. Die Routiniers zeigen wie es gemacht wird

Nachdem der Headliner-Auftritt von Lana Del Rey am Freitag viele harsche Kritiken nach sich gezogen hatte (dazu später mehr), wurde im Primavera-Subreddit nach dem Konzert von PJ Harvey tags darauf ein Bild von ihrem Auftritt mit der so einfachen wie vielsagenden Byline „Take notes, Lana“ gepostet. Wie weit dieser Vergleich trägt, in Anbetracht der Tatsache, dass beide Künstler*innen wenig gemeinsam haben außer ihrem Geschlecht und ihren weißen Kleidern, sei mal dahingestellt. Aber dennoch war es auch für mich ein Festival, auf dem gerade Acts, die schon seit mehr als 30 Jahren Musik machen, mit die besten und frischesten Konzerte gespielt haben. Ich stelle das hier so heraus, da ich normalerweise dazu neige, eher skeptisch zu sein, wenn irgendeine Band, deren Mitglieder mittlerweile auf die 60 zugehen oder sogar bereits passiert haben und die ihren künstlerischen Zenit längst überschritten haben, auf irgendeinem Line-Up-Poster auftaucht. Nicht, weil mich – so wie es für viele andere (insbesondere bei Reunion-Konzerten) der Fall zu sein scheint – das zugrunde liegende Motiv, nochmal schnell groß abzukassieren, stört, sondern weil die Kunst und die Musik selbst oft nicht mehr zünden. Wo früher mal interessante, innovative und coole Musik, die Teil ihrer jeweiligen Gegenwartskultur war, zu finden war, ist heute oftmals nur noch angestaubter, entkontextualisierter Museumsrundgang angesagt.

In diesem Jahr waren es aber genau diese Konzerte, die mich komplett mitgerissen haben. Wenig überraschend war das für mich bei Yo La Tengo, einer meiner absoluten und ewigen Lieblingsbands, deren zwischen den abgefucktesten Noise-Ausbrüchen und den leisesten und zartest gehauchten Akustikgitarrensongs pendelnder Indie-Rock sowieso schon immer so eine über den Dingen schwebende, intime Qualität hatte, dass man sich nie Sorgen machen musste, er würde irgendwann aus der Zeit fallen. Sowieso schon zur ständigen Innenausstattung des Festivals gehörend, durfte das Trio aus Hoboken, New Jersey, in diesem Jahr sogar gleich zweimal spielen. Auf dem regulären Festival haben sie ein normales Set auf der ihnen eigentlich unwürdigen, parkplatzästhetischen Amazon Music-Stage gespielt. Eine Stunde, eigentlich viel zu kurz für eine Band mit diesem Backkatalog, aber doch genug, um ein wundervolles Set zu spielen, gespickt mit Songs ihres Vorjahresalbums This Stupid World (welche andere Band bringt eigentlich noch so gute Musik raus knapp 40 Jahre nach ihrer Gründung?), aber auch unverwüstlichen Indie-Klassikern wie dem immer wieder wunderschönen „Autumn Sweater“ oder der als Closer gespielten und live auf knapp zwölf Minuten gestreckten Gitarreneskalation „Blue Eyed Swinger“, einem meiner absoluten Lieblingssongs überhaupt.

Zwei Tage zuvor allerdings hat Yo La Tengo bereits einen weiteren, diesmal fast zweistündigen und mit dem Zusatz „play Covers“ angekündigten Auftritt im Sala Apolo gespielt. Ein Auftritt, der mich mehrere Male das Licht hat sehen lassen, so gut war es. Gespielt wurden Songs von Black Flag, den Urinals und Dream Syndicate über Sun Ra und Daniel Johnston bis hin zu ihren ewigen Lehrmeistern von The Velvet Underground – alles im Signature Style der Band und mit einer passionierten Gelassenheit, wie man sie wahrscheinlich erst erlangt, wenn man seit 30 Jahren zusammen Musik macht. „Heroin“ als 15-minütiges Feedback- und Distortion-Gewitter, zart gehauchte, von Georgia Hubleys engelsgleicher Stimme getragene Versionen von „Sunday Morning“ und Sandy Dennys „By the Time It Gets Dark“, punkige Zweiminüter wie das Steve Albini gewidmete Cover von Cheap Tricks „He’s a Whore“ – alles wurde gespielt, es war magisch.

Von dem Headliner-Auftritt von PJ Harvey, ebenfalls schon weit über drei Jahrzehnte als Musikerin prägend, hatte ich mir persönlich im Vorfeld gar nicht so viel versprochen. Meist legt sie bei ihren Konzerten einen starken Fokus auf ihre aktuellen Alben – und diesmal wäre das das intime, poetryeske I Inside the Old Year Dying aus dem letzten Jahr gewesen. Ich mag das Album in seiner poetischen Ruhe sehr, aber dachte, es sei für die Mainstage eines Major-Festivals gänzlich ungeeignet. Was PJ Harvey und ihre großartigen Begleitmusiker*innen dann aber gezeigt haben, war vielleicht eines der besten Konzerte, die ich gesehen habe. Wenige Minuten bevor es losgehen sollte, brach – und das habe ich in meiner kompletten Primavera-Lebensspanne noch nicht erlebt – der Himmel auf. Und zwar richtig, nicht als Schauer, sondern stundenlang und so heftig, dass sich gleich mehrfach bei denen bedankt wurde, die vor der Bühne verharrten. Aber was blieb ihnen auch übrig? Denn was sie sahen, war ein Konzert von durchdringender und ätherischer Schönheit.

Leise ging es los mit einigen Songs vom aktuellen Album, bevor eine Let England Shake-Sektion, einem meiner Lieblingsalben der 2010er-Jahre, inklusive des schwerelos klingenden Titeltracks folgte. Alle Musiker wirkten wie eingelockt, nichts als Regen und Musik. So fragil, doch auch so hypnotisch, dass selbst die passioniertesten spanischen Konzertquatscher irgendwann schwiegen oder sich selbst so deplatziert fühlten in der melancholischen Ruhe, die dort auf der Bühne performt wurde, dass sie das Weite suchten. In der Mitte des Konzerts kam dann dieser Moment, als aus einem sehr guten Auftritt ein absoluter Primavera-Alltimer wurde. Nach einer kurzen, aufrichtigen Widmung und Ansprache für Steve Albini spielte PJ Harvey allein und nur mit Akustikgitarre das wunderschöne „The Desperate Kingdom of Love“. Es mag klischeehaft klingen, doch es war, als würde der Himmel weinen. Und die Leute um mich herum taten es auch. Nicht vor Trauer, sondern vor Schönheit. Es lag diese Atmosphäre in der Luft, die man auf Konzerten nur selten verspürt. Zum Ende hin und nach diversen Klassikern in einem – entgegen meinen Erwartungen – sehr ausgewogenen, sich durch das gesamte Schaffen dieser begnadeten Musikerin ziehenden Auftritt wurde der traurig-schöne, minimalistische und doch brachiale Titeltrack von ihrem vielleicht bekanntesten Album To Bring You My Love gespielt. „And I’ve traveled over / Dry earth and floods / Hell and high water / To bring you my love“ – und aus dem Regen wurde ein Gewitter.

Yo La Tengo Covers-Only-Show im Sala Apolo

4. Es ist die beste Zeit überhaupt, um Vampire Weekend zu sehen

Seitdem ich 2015 das erste Mal beim Primavera Sound war, waren Vampire Weekend quasi der Act, den ich dort mit am liebsten sehen wollte, neben einigen mehr oder weniger unmöglichen Kandidaten wie Boards of Canada oder My Bloody Valentine. Jahr für Jahr habe ich ans Universum appelliert, Jahr für Jahr wurde nichts daraus. Bis zu diesem Jahr. Im November wurden Vampire Weekend bestätigt. Da bis dahin noch nicht viel über ein neues Album bekannt war und auch sonst nichts auf Liveaktivitäten hingedeutet hatte zu dem Zeitpunkt, war das eine wundervoll warme Überraschung. Zumal es der einzige Auftritt in Festlandeuropa sein sollte in diesem Sommer. Trotzdem war ich auch, wenn auch nur ein wenig, skeptisch. Nach drei für mich mehr oder weniger perfekten Indie-Alben stieg 2016 der – so dachte man über seine Rolle – kreative Taktgeber Rostam aus der Band aus und einige Zeit später wurde das in meinen Augen, trotz all der schönen Momente, eher unausgegorene Album Father of the Bride veröffentlicht. Es war nicht furchtbar und ich mag es auch, wenn Bands versuchen, ihren Sound neu zu denken, aber am Ende ist Vampire Weekend dann grandios, wenn sie den besten Indie-Rock der letzten 15 Jahre spielen und nicht in mittelmäßiger Country-Experimentation.

Nach den ersten Singles und schließlich der Veröffentlichung vom aktuellen Album Only God Above Us waren diese Zweifel schnell zerstreut. Es ist fast ungeheuerlich, wie gut das alles ist, ein Return to Form-Album und doch eine nuancierte Weiterentwicklung zugleich. Die Gitarren sind verzerrter und krachen mehr, Ezra Koenigs Texte fußen weniger in cleveren Wortspielen als früher und sind dafür von einer großen, warmen Menschlichkeit durchzogen, aber im Kern ist das immer noch diese Band, die Melodien, für die andere Bands ihre Eltern verkaufen würden, mit einer Mühelosigkeit aus dem Ärmel schütteln kann, die fast schon frech erscheint. Auch die Berichte von den ersten Konzerten ließen Großes erwarten. Ein zweiter Perkussionist war dabei, genau wie ein Saxofonist, jemand der Geige spielt und gefühlt noch zig andere Menschen, die dem Sound eine neue Tiefe und Textur verleihen sollten. Und ihr Headliner-Konzert beim Primavera war dann schließlich auch genau der Moment, den ich mir erhofft hatte.

Das selbstbetitelte Debüt wird wohl auf ewig mein Favorit der Band bleiben. Es ist eines meiner absoluten Lieblingsalben. Und doch bin ich froh, Vampire Weekend zu genau diesem Zeitpunkt noch einmal sehen zu dürfen, denn gerade live ist die Band besser denn je. Die neuen Songs – vielleicht DER Hit „Classical“, das wunderschön-zarte „Capricorn“ oder der Indie-Rock-Treat „Gen X-Cops“ – klingen, obwohl das Album sehr ausproduziert ist, großartig live, aber vor allem auch ältere Songs bekommen durch das neue Live-Outfit nochmal komplett neue Facetten. Die Band spielt sich ausgewogen durch ihren kompletten Backkatalog, von den unverwüstlichen frühen Hits wie „Oxford Comma“ und „Campus“ über Deepcuts des immer noch wundervoll-verqueren und unterschätzten Zweitwerks Contra bis zum so ungewöhnlichen wie großartigen Closer „Ya Hey“ von Modern Vampires of the City. Es ist ein unglaublich detailreicher, tiefer Live-Sound, bei dem trotzdem jeder noch so kleine Percussiondrop oder Violinelauf live produziert wird. Das letzte Mal, dass ich so eine akribische Nuanciertheit auf einem Konzert gesehen habe, dürfte 2016 bei LCD Soundsystem gewesen sein, bei denen ebenfalls jeder noch so kleine Synthsound irgendwo aus der Bühne hergestellt wird.

Vampire Weekend versprühen aktuell live diese Art Passion, wie sie die früheren Konzerte von Arcade Fire ausgestrahlt haben, machen dabei aber die viel bessere Musik und wirken auch nicht so verflucht angestrengt. Mit einer Hand in der Hosentasche schlendert Ezra zu Beginn auf die Bühne, als würde er nur kurz vom Sofa aufstehen, um sich ein Getränk aus dem Kühlschrank zu holen und nicht ein Headliner-Konzert vor zehntausenden Menschen spielen. Eine Kombination aus Familie-Park-in-Parasite-artiger Gelassenheit und der funkigen Passion der Stop Making SenseTalking Heads geht von der Bühne aus. Nach mehr als einer Stunde Konzert ist da nirgends ein Schweißtropfen zu sehen und trotzdem hat man das Gefühl, dass alle alles, also wirklich ALLES, über das sie verfügen, in ihren Auftritt hineingelegt haben.

5. Guck dir Acts mehrmals an

Es gibt diesen aus der antiken griechischen Dichtung stammenden Satz: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.“ Heute würde man vielleicht von Spezialisten und Generalisten sprechen. Der Punkt für mich ist: Ich war immer der Igel, der Spezialist, derjenige, der den Deepdive macht. Es gibt viele Dinge, die mich nicht wirklich interessieren und die ich links liegen lasse, aber wenn mich etwas packt, dann richtig und auf eine Art, bei der ich mir in kurzer Zeit extrem viel Wissen aneigne und mich quasi mit nichts anderem mehr beschäftige. Ich schreibe das in einen Primavera-Text, weil sich diese Eigenschaft bei mir auf die Route auswirkt, in der ich durch das Festival stapfe. Wie oben schon geschrieben, kannst du hier natürlich jeden Tag zehn unterschiedliche, großartige Konzerte sehen und dennoch das Gefühl haben, dafür 20 andere verpasst zu haben. Man kann die Vielfalt der gesehenen Acts aber auch bewusst noch etwas weiter runterschrauben und stattdessen seine Lieblingsmusiker*innen gleich mehrmals anschauen. Oft ist das möglich, denn viele Acts spielen hier mehrere Auftritte. Ich mache das persönlich extrem gerne, da ich eben lieber einen Act richtig sehe, als drei oder vier nur ein wenig. Bei mir entsteht so das Gefühl, nochmal ganz andere Facetten zu sehen, kurz gesagt: eine größere Tiefe, ein verschärfter Blick.

Oben schrieb ich bereits über Yo La Tengo. Erst spielen sie ein Cover-Set im schönsten Club der Stadt, dann ihre eigenen Songs auf dem Festival – und gerade diese Kombination aus zwei total unterschiedlichen Sets, die sich aber doch perfekt ergänzt haben, erwächst bei mir ein Gefühl, als würde diese Erfahrung vom Kurzzeit- direkt ins Langzeitgedächtnis hinüberwandern. Etwas, das vielleicht im Strom der konstanten Sinneseindrücke und Reize schnell in Vergessenheit geraten könnte, wird durch diese Vertiefung zu etwas, bei dem ich das Gefühl habe, es wird mich noch lange begleiten.

Ein anderer Act, der eigentlich nur einmal spielen sollte, aber dann doch zweimal auftrat, war Charli XCX. Neben ihrem regulären Festivalauftritt hatte sie am gleichen Tag, mit ca. zwei Stunden Vorlauf, angekündigt, zusammen mit A.G. Cook und George Daniel noch ein DJ-Set direkt am Strand in Barcelonetta zu spielen. Wir hatten das Glück, in der Nähe zu wohnen und sind gleich los. Während ich auf ihren normalen Auftritt zwar Lust hatte, aber nicht übermäßig gehypt war, nachdem ich sie bereits einige Male in den letzten Jahren gesehen habe und ihr Set doch, neben den Songs vom aktuellen Album, tendenziell aus den gleichen Hits (ich schreibe das hier etwas gelangweilt, aber wir wissen alle, dass die meisten zeitgenössischen Popmusiker*innen ihre Seele verpfänden würden, um auch nur einen dieser Hits zu schreiben – und Charli hat 20 davon) besteht. Ihr PARTYGIRL-Boiler Room-Set aus diesem Jahr aber war eine ganz andere Nummer. Cool, unique, nach vorne gehend, voll von Deepcuts. Dementsprechend war ich voller Vorfreude, genau diese Art von Set nochmal zu sehen. Und genau so war es dann auch. Das Set vor vielleicht 250 spontan zum Strand gepilgerten, halbverkaterten Menschen mit dem Mittelmeer im Augenwinkel hat mich rundum glücklich gemacht, während mich ihr eigentlicher Auftritt auf der großen Festivalbühne eher achselzuckend zurückließ. Es war nicht schlecht, aber trotzdem ziemlich identisch mit dem, was sie 2022 an gleicher Stelle performt hat. Vermutlich wird sie auch 2034 in ihrer IDM-Dubstep-Phase ihr Set mit „I Love It“ abschließen. Naja. Dennoch bin ich froh, beide Auftritte gesehen zu haben, um zu merken, dass mein Verhältnis zu einer meiner Lieblingspopkünstlerinnen mittlerweile einfach ein anderes ist als noch vor zwei Jahren.

Sogar dreimal habe ich bei dieser Ausgabe Militarie Gun gesehen – auch hier mit jeweils komplett unterschiedlichen Konzerten. Die Post-Hardcore-Band aus Kalifornien mit personellen Überschneidungen zu ziemlich vielen anderen Acts aus dem Genre, die ich sehr mag, wie unter anderem Drug Church, hat mit Life Under the Gun vielleicht mein liebstes Gitarrenalbum des letzten Jahres veröffentlicht, wobei sich die Band dabei mit ihrer Affinität zu Indie-Rock-Riffs und oft sogar Power-Pop-Hooks schon recht weit vom reinen Hardcore-Sound wegentwickelt hat. Ich liebe es komplett und habe mich sehr auf die Festival-Auftritte gefreut. Zunächst hat die Band ihr reguläres Frühabend-Set auf einer für das Festival zwar kleinen, aber doch jeden „echten“ Hardcore-Konzertgänger verzweifeln lassenden Bühne gespielt und es war: Fantastisch. Es war eines dieser frühen Sets auf dem Festival, bei dem man merkt, dass viele eigentlich nur so vorbeischauen, um dann doch komplett eingenommen zu werden. Der Moshpit war am Anfang noch klein, zum Ende hin, spätestens zum „Song 2“-Cover, war dann der komplette vordere Bereich dabei. Es war so energiegeladen wie umsichtig und schön.

Später am Abend, gegen 0:30 Uhr, wurde dann angekündigt, dass die Band noch ein weiteres Set auf einer der vielen kleinen Showcase-Bühnen des Festivals spielen würde. Also alles stehen und liegen gelassen und los ging es. Diesmal vor vielleicht 200 Leuten auf einer ebenerdigen 360°-Bühne (was heißt: ein Teppich, auf dem die Band steht) bei ungefähr 40° Raumtemperatur. Und holy shit, war das gut. Das Set ging genregerechte 25 Minuten inklusive ungeplanter Zugabe, aber danach konnte auch niemand mehr. Das Triple komplett machte dann noch eine Club-Show am Sonntag, also sozusagen die Closing-Party des Festivals zu einem Zeitpunkt, wenn der Körper nach sieben Tagen Festivaleskapaden langsam aufzugeben scheint. Trotzdem nochmal alles gegeben – und alles zurückbekommen.

Yo La Tengo, Charli XCX, Militarie Gun – bei jedem dieser Acts habe ich das Gefühl, sie wirklich gesehen zu haben. Gefühlt zu haben, um was es bei ihren Konzerten geht, anstatt nur dabei gewesen zu sein.

Militarie Guns spontan angekündigte 360°-Floor Show

6. Das „eine große Pop-Konzert“ ist nicht mehr meins

Der Auftritt, der im Vorfeld des Festivals den meisten Buzz generiert hat, war sicher der von Lana Del Rey. Wochenlang ploppten Tag für Tag Posts im Primavera-Subreddit auf, in denen Lana-Fans, so wie es in den merkwürdigen parasozialen Beziehungen, die junge Menschen mit ihnen eigentlich fremden Popstars führen, üblich ist, diskutiert haben, wann man denn am frühen Morgen da sein müsste, um am Ende auf jeden Fall einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern, wie man das mit dem Toilettengang regeln könnte, ohne seinen Platz aufzugeben, wo Lana wohl nächtigt, all das eben.

Ich möchte hier weder viel über Lana Del Reys Musik schreiben (die ich sehr mag) noch über ihre Performance an sich (sie war eine halbe Stunde zu spät und hat ein okayes Konzert mit einer nicht idealen Setlist gespielt, das meiner Freundin aber die Welt bedeutet hat, womit es für mich also irgendwo doch sehr schön war), sondern eher über diese Art von Auftritt schreiben: Dieses eine große Headliner-Konzert, das wie ein leuchtender Stern im Zentrum eines Festivaltages steht, um den der ganze Rest zu kreisen scheint. Bis 2016 zum ersten Mal Radiohead gebucht wurden, war das Primavera eigentlich nie ein Festival, bei dem es diesen einen aus dem Rest des Line-Ups herausragenden „Big Act“ gab. Damit fing es an. Das ganze Festival war voll mit Briten, die sich, wie sich herausstellte, nur am Rande für den Rest des Billings interessierten. Radiohead spielten am Freitag um 22 Uhr und schon am späten Nachmittag war die Bühne voll. Irgendwann spielten Beirut auf der Bühne gegenüber und um mich herum standen haufenweise desinteressiert quatschende Menschen, teilweise mit dem Rücken zur Bühne. Es war stressig und das Radiohead-Konzert an sich, schlechter Sound und ein Platz gefühlt einen Kilometer von der Bühne entfernt sei Dank, nur okay.

Lange habe ich diese Art von Auftritt danach umschifft, es lohnt sich einfach nicht. Im letzten Jahr spielte dann Rosalía ihren großen Homecoming-Gig in ihrer Heimat und ich wollte dabei sein, weil Motomami… es ist Motomami, was soll ich sagen. Und es war besser als bei Radiohead. Halb Barcelona hatte sich schon Stunden zuvor an der Hauptbühne versammelt, um ihre Heimatstadtikone aus gebührender Nähe zu sehen, und Rosalía selbst war sichtlich gerührt. Die Musik steht ohnehin für sich. Dennoch war es wirklich absolut fucking voll, ein einziges Gedränge und Geschiebe, irgendwo kurz vor der Panikattacke.

Und nun also Lana Del Rey. Teilweise von der Atmosphäre unter dem Publikum mehr Gottesdienst als Konzert. So musikalisch erhaben das in Teilen auch sein mag und so schön es auch ist, die Tränen in den Augen der sichtlich gerührten Anhänger*innen (das richtige Wort) zu sehen, befremdet es mich doch, wenn da Menschen bar jeder Ironie mit angezündeten Kerzen im Publikum stehen, auf denen das Konterfei ihres Idols, stilisiert als heilige Maria, zu sehen ist. It just doesn’t feel right. Währenddessen kollabieren um einen herum massenhaft junge Mädchen, weil sie seit zehn Stunden nichts mehr getrunken haben, um ihren erkämpften Platz nicht aufgeben zu müssen.

Alles schrecklich amüsant, aber in Zukunft lieber ohne mich.

7. Schaut euch die token“ Metal-Band an

Wohin man stattdessen lieber gehen sollte: Diesem einen Konzert irgendeiner – augenzwinkernd gesagt – „token“ Metalband, die um 4:30 Uhr auf der kleinsten Bühne des Festivals spielt. Es ist schon ein wenig ein Running Gag, aber seitdem ich aufs Primavera fahre, gibt es diese Konzerte wirklich in jedem Jahr. 2015 Pallbearer und Electric Wizard, 2016 Venom, 2017 Slayer…und so weiter und so fort. Und es ist immer großartig. Nicht nur wegen der Musik, sondern auch, weil es eine ziemlich einmalige Crowd für solche Acts ist. Da stehen die gleichen Leute in Leder-Speedos und mit Glitzergesicht, die sich eine Stunde später bei A.G. Cook die Füße wund tanzen werden, plötzlich bei Wiegedood, dem feinsten Black Metal, den es in Belgien gerade zu finden gibt – und lieben es komplett. Genau wie ich. So sehr ich gelegentliche Metal-Shows genießen kann, wäre ich, genau wie die meisten anderen Primavera-Gänger*innen, auf einem reinen Genre-Festival doch fehl am Platz. Gerade die Vielfalt liebe ich, es ist für mich vielleicht der Aspekt, der das Primavera eben zum besten Festival der Welt macht. Und deshalb ist genau dieser eingesprenkelte Act immer genau das, was ich zu genau dem Zeitpunkt brauche.

Der größte Act „härterer“ Musik in diesem Jahr waren eindeutig Deftones, die in den letzten Jahren durch das Nu-Metal-Revival (auch wenn das eigentlich nicht die richtige Zuordnung ist, aber das sei an dieser Stelle ignoriert) und vor allem auch die riesige neue Popularität von Shoegaze, als dessen spirituelle Verwandte Deftones, die natürlich keine Shoegaze-Band sind, gelten, nochmal einen großen Push erhalten haben. Bisher hatte ich selbst allerdings nie so wirklich den Zugang finden können, obwohl auf dem Papier eigentlich immer alles stimmte. Irgendwas klickte einfach nicht. Trotzdem habe ich mich am Donnerstagabend gegen Pulp und für Deftones entschieden und, Jesus, Gott sei Dank habe ich das getan. Denn es war großartig. Chino Moreno hat – wie anscheinend immer? – alles reingeworfen, was da war, das Publikum war ein einziges wundervolles Chaos. Es war eines dieser Konzerte, nach denen man erst einmal mit einem gewaltigen Deepdive in die komplette Diskografie eintauchen möchte. Genau für solche Buchungen bin ich hier.

8. Es ist okay Lieblingsbands ziehen zu lassen

Einer der Headliner in diesem (wie in vielen anderen) Jahr war The National. Abgesehen von einigen Songs zwischendurch hier und dort, habe ich die Band zuletzt 2013 auf dem Hurricane gesehen, direkt vor Portishead und Sigur Rós. Ich mochte die Band schon damals sehr, aber dennoch war es erst der Auftritt, der mich so richtig zum Fan gemacht hat, so gut war das alles. Da stand ich also mit 18 Jahren in der Nachmittagssonne von Scheeßel, einen Tetrapack Rotwein in der Hand, und habe aus voller Kehle die für mich damals schönsten Lieder der Welt mitgesungen – „Big wet bottle in my fist / Big wet rose in my teeth / I’m a perfect piece of ass“. Diese Phase ging dann recht schnell zu Ende, was nicht zuletzt daran lag, dass die Band damals, kurz vor dem Hurricane-Auftritt, mit Trouble Will Find Me das letzte Mal etwas von künstlerischer Bedeutung veröffentlicht hat und seitdem in einem kreativen Dead End verweilt, aus dem sie – so sieht es aus – wohl auch nicht mehr herauskommen werden. Bei all den vielen Gelegenheiten, The National noch einmal zu sehen, habe ich mich seitdem immer für das Gegenteil entschieden und es auch nie bereut.

Als dann in diesem Jahr angekündigt wurde, dass die Band neben ihrem Headliner-Auftritt noch ein weiteres Konzert im Razzmatazz-Club in Barcelona spielen würde, habe ich mich dann doch wieder etwas von der Euphorie anstecken lassen, die als Reaktion auf diese Nachricht ausgebrochen ist. The National mit einem zweistündigen Set vor nur 1500 Leuten im Club, so etwas gab es laut Fans, die sich besser auskennen als ich, seit 10 Jahren nicht mehr. Was konnte man wohl erwarten? Viele Deepcuts? Vielleicht sogar Boxer in Gänze? Irgendwas Besonderes, oder? Ich persönlich habe gehofft, mal „All the Wine“ mit leichtem Schwips hören zu dürfen, dem besten Song für diesen Zustand. Es wurde dann aber ein ganz normales Set. Ein oder zwei kleine, nicht so häufig gespielte Songs, bisschen aktuelles Album, „Mr. November“, „Fake Empire“, „Vanderlyle Cry…..“ zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz. Was ich sagen möchte: das Übliche. Und es war neutral betrachtet sicher auch nicht schlecht. Sie haben über zwei Stunden gespielt, am Ende sogar noch überzogen, wirkten halbwegs motiviert (keine Selbstverständlichkeit), und das dankbare Publikum war sowieso involviert. Während des Konzerts hatte ich eine gute Zeit, doch was am Ende übrig blieb war: nichts.

See U next year. <3

Alle Acts, die ich gesehen habe, ich chronologischer Reihenfolge:

The Messthetics & James Brandon Lewis (Club Show), Yo La Tengo (Cover only-Set, Club), Armand Hammer (Club Show), The National (Club Show), Phoenix, William Basinski performing Disintegration Loops, Mannequin Pussy, Amy & The Sniffers, Vampire Weekend, Deftones, The Armed, Wiegedood, A.G. Cook, Scowl, Yo La Tengo, Lana Del Rey, Charli XCX PARTYGIRL-DJ Set (am Strand), Nala Sinephro, Water From Your Eyes, Militarie Gun, PJ Harvey, Romy, Atarashii Gakko!, Militarie Gun (Floor Show), Charli XCX, Silica Gel (Club Show), Militarie Gun (Club Show), American Football (Club Show)

Wasting the Weekends #1: Mdou Moctar, Hovvdy, Cola live

Vor einiger Zeit, genauer gesagt am Jahresende 2022, einem Zeitpunkt in meinem Leben, an dem es mir wirklich nicht gut ging, schrieb ich bereits über die Frage, wie man auch als Erwachsener auf die 30 zugehender Mensch – also weniger Freizeit durch Arbeit, weniger ausgehbereite, neugierige Freund*innen und so weiter – in dieser sich unaufhaltsam weiter beschleunigenden Gesellschaft sein von Leidenschaft und Neugier geprägtes Verhältnis zur Gegenwartskultur behalten könnte. Das mag nach aus unterschiedlichen Gründen für den ein oder anderen auch weiterhin nach einem albernen Luxusproblem klingen, aber mir ist es ernst damit. Kultur und Kunst sind für viele sicher nicht mehr als ein kleiner Zwischenraumfüller inmitten eines Alltags aus Arbeit, Gym, Urlaubsplanung (weil Alltag Mist ist) und vielleicht etwas Familie. Ein paar Stunden Netflix nach der Arbeit, also Ablenkung, also Betäubung. Für mich war und ist das alles – Popmusik, Serien, Filme, Literatur, Blogs, Newsletter, Zines, Konzerte und so weiter – aber ein zentraler Zugang zu der Zeit, in der ich lebe, eine emotionale Verbindung zu einer Gesellschaft, aus der ich mich mehr und mehr zurückziehe, und nicht zuletzt ein wohlbenötigter Ausbruch aus diesem an seinem eigenen Einsturz arbeitenden Gegenwartsgefängnis irgendwo zwischen chronischer Erschöpfung und chronischer Langeweile.

Insbesondere mein Verhältnis zur Popmusik – sicher trotz des Kinos, trotz der Science Fiction und all den fantastischen Serien meine primäre Leidenschaft und das Territorium auf der Popkulturlandkarte, in dem ich mich am besten auskenne – hatte sich in den 20er-Jahren stark verändert und in eine Richtung entwickelt, die auf ein paar Eckpunkte herunterzubrechen sind: weniger bewusstes Musikhören, weniger Konzerte, mehr algorithmisiertes Streaming, weniger kuratiertes Empfehlungshören, mehr Playlists, weniger Alben, mehr Musik, die man hören sollte, weniger Musik, die ich hören wollte. Über die vielen Gründe für diese Veränderung könnte man lange nachdenken und sicher einiges daraus ziehen. Es würde darum gehen, wie Corona, die Art, in der man neuer Musik begegnet, nachhaltig verändert hat, um die Wege, in denen die Plattformarchitektur von Streaminganbietern nicht nur die Musiklandschaft sondern auch die Hörgewohnheiten verändert hat, um TikTok und am Ende sicher auch um den allgemeinen Verfall meiner eigenen Aufmerksamkeitsspannte. Aber diese Texte wurden bereits geschrieben – von anderen und auch von mir selbst. An dieser Stelle möchte ich auf etwas anderes hinaus: Gegengifte.

Der Versuch einer Rückeroberung meiner wichtigsten Leidenschaft soll einer werden, der auf das altbackenste aller Mittel setzt: Schreiben. An diesem Ort, über das, was mich musikalisch zurzeit beschäftigt, ob neue oder wiederentdeckte Alben, Musikgossip, der mich interessiert, kurze Konzertberichte oder gelesene Musikbücher. Hauptsache ich bin emotional und kognitiv involviert. Am wichtigsten aber: Regelmäßigkeit. Ein Musiktagebuch möchte ich das nicht nennen, da ich beim Schreiben stets versuche, die Dinge, die mich beschäftigen – Musik, Filme, Pop, Soziologie – so aufzubereiten, dass nicht nur meine eigenen Befindlichkeiten im Mittelpunkt stehen, sondern auch die Kunst an sich. Natürlich liegt das leicht quer zu dem sehr stark auf meine Motivationen zurückgreifenden Einstieg in diesen Text. Außerdem kann man Befindlichkeit und Kunstwerk sowieso nicht klar trennen, wenn es um so etwas Subjektives geht wie die emotionale, eruptive Wirkung eines großartigen Popsongs. Aber am Ende soll es eben um diesen Song gehen und nicht um mich. Ebenso wenig wie ein Tagebuch möchte ich dieses Format aber Newsletter nennen. Obwohl Newsletter wie Chasing Fridays von Eli Enis, einem meiner liebsten Musikjournalisten, meine Hauptinspirationsquelle sind, möchte ich hier nicht von einem sprechen. Das liegt einfach daran, dass das Wort Newsletter, auch wenn es natürlich ein Meme ist, dass 99% von ihnen sowieso ungelesen in die Datenmüllwolke des eigenen Maileingangs inhaliert werden, für mich trotzdem eine starke Verbindlichkeit evoziert. Und ich weiß, dass ich diese Verbindlichkeit zwischen Arbeitshektik und Erschöpfungsdepression sowieso nicht einhalten könnte oder sie als lästige Arbeit empfinden würde, also dem Gegenteil von dem, um das es mir hier gehen soll: Freude. Passion. Schönheit.

Es soll einfach ein unregelmäßig regelmäßiger Versuch sein, meine Gedanken zu meiner größten Leidenschaft so zu strukturieren, dass sie auch für andere interessant sein könnten. Ein Versuch, weniger nur Halbwahrgenommenes zu konsumieren, um es doch gleich wieder zu vergessen, und mehr von dem zu behalten, das mich wirklich berührt. Und ein solcher Versuch benötigt einen Namen. Also: Willkommen zum ersten Versuch von Wasting the Weekends, benannt nach dem Closer des vor kurzem erschienenen neuen Albums Life on the Lawn der aus Philadelphia stammenden und auch so klingenden Slacker-Rock-Band A Country Western. Es ist ein wundervolles kleines Album, und mir erschien es passend für dieses Projekt, einen Namen zu wählen, der etwas mit dem zu tun hat, das mich in diesem Moment musikalisch beschäftigt und erfüllt.

Mdou Moctar – Funeral for Justice

Für sich selbst als progressiv (im künstlerischen Sinne) wähnende Musikhörer*innen gehört es schon lange zum guten Ton, mit unterschiedlichsten Begründungsstrategien zu behaupten, dass Gitarrenmusik im Grunde „tot“ sei. Oder vielmehr: untot. Denn es gibt sie ja noch. Es geht mehr darum, darauf hinzuweisen, dass in der (Indie-)Rockmusik seit Jahrzehnten schon Innovationsstau herrscht und dass das, was heute mit Gitarren in westlichen Männerhänden passiert, meistens so klingt, als wäre man wahlweise wieder zurück in die 2000er-Jahre, die 90er oder gleich ganz zurück zu Velvet Underground gereist. Selbst wenn man in westlichen Soundsphären verhaftet bleibt, muss man bei Alben wie dem aktuell in der Musikpresse gehypten Underground-Hypnagogic-Pop-Meisterwerk Diamond Jubilee von Cindy Lee nur etwas genauer hinhören, um diesen Vorwurf zu entkräften. Völlig albern wird es aber, wenn man den euro-/amizentrischen Hörhorizont erst einmal verlässt. Zu behaupten, dass in der Popmusik nichts Neues passiert, zeigt meist nur, dass man als Spotify-Algorithmus gesteuerter Musikhörer entweder nicht tief genug gegraben hat oder – wie im Falle des neuen Mdou Moctar-Albums – nicht bereit ist, auch mal zur geografischen Seite zu gucken.

Mahamadou Souleymane, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Mdou Moctar, ist ein nigrischer Musiker und vielleicht der coolste und innovativste Gitarrist, den ich in den letzten Jahren kennengelernt habe. Das fünfte Album nach ihm benannten Tuareg Blues-Projekts, Afrique Victime, was so etwas wie der internationale Durchbruch und wurde u.a. bei Pitchfork mit dem Best New Music-Prädikat versehen. Damals ist das alles aber – Corona, Depressed-sein, das Übliche – an mir vorbeigerauscht, und so ist es der in der letzten Woche erschienene Nachfolger Funeral for Justice, der mich dem Projekt etwas später als der Rest hat verfallen lassen. Schon der Titeltrack-Opener macht klar, wohin die Reise geht: Es dauert exakt zehn Sekunden, bis Mdou Moctar seine Gitarre an einen Klimax in Form eines unwiderstehlichen, innovativen Riffs geführt hat, den die meisten anderen Rockbands auf Albumlänge vielleicht ein-, zweimal, meist aber gar nicht erreichen. Der schlagende Puls wird auf Funeral for Justice in den ersten Takten auf Anschlag gedreht und verweilt dort fast über die komplette Distanz, bevor er erst mit dem letzten Track „Modern Slaves“ ein wenig zur Ruhe kommen darf. Trotz der begnadeten Gitarrenarbeit ordnet sich Mdou Moctar ohne zu murren in die Rhythmusmaschine seiner Begleitmusiker ein. Der Groove und der Rhythmus sind wichtiger als das Solo und die Melodie, ohne zu sagen, dass letztere sich hier nicht haufenweise durch die Gehörgänge und direkt in die Gliedmaßen fräsen. Denn genau das tun sie.

Funeral for Justice ist ein explizit politisches Album, dessen progressive Energie aber nicht aus den gesungenen Texten stammt, wie es bei viel zu viel westlicher „Protestmusik“ passiert, die sich wahlweise eher in lahmen Sonntagsdemonstrationsgesängen oder Soziologieseminarexkursen verrennt. Die politische Energie ist hier die Energie der Musik selbst, des Sounds, des Kollektivs. Obwohl Mdou Moctar auf Touareg singt und die meisten westlichen Hörer*innen somit nicht wortwörtlich verstehen können, was da gesagt wird, wird man dennoch verstehen. Fühlen. Kunst handelt nicht davon, wie die Welt ist, sondern vermittelt Haltungen zu ihr. Und die Haltung, die die Gitarrensounds von Mdou Moctar für mich vermittelt, ist eine, die mich daran glauben lässt, dass wir diesen Menschen vernutzenden, unterdrückenden, durchsortierenden und ausschließenden Drecksladen, den wir Gegenwart nennen, vielleicht doch noch abfackeln und durch etwas Schöneres ersetzen können.

Hovvdy – Hovvdy

Wenn Mdou Moctar sowas wie mein musikalischer Upper in der letzten Woche war, liefern Hovvdy den ebenso dringend benötigten Downersound, um zwischendurch wieder runterzukommen und durchatmen zu können. Wobei Downer hier eindeutig nicht im Sinne des gefühlsmäßigen Down-Seins zu verstehen ist, sondern als down sein im Drogenjargon: Songs, die Komfort bieten und sich wie eine warme Decke um einen legen, die eine beruhigende Wirkung erzeugen und sich anfühlen, als würden sie den kontinuierlich überfordernden Nachrichtenstrom zwischen dem Gehirn und dem zentralen Nervensystem verlangsamen. „We’ll do a whole lot of talking/Don’t a lot have to happen,“ wird auf dem nur von langsam dahinschwelgenden Akustikgitarren untermalten Song „Angel“ vom aktuellen Album gesungen – und man fühlt es.

Die Musik des aus Charlie Martin und Will Taylor bestehenden Bedroom-Pop-Duos aus Austin, Texas, begleitet mich mittlerweile schon seit vielen Jahren. Während sich die musikalische Karriere der beiden für die Mehrheit der Kritikerstimmen in einer kontinuierlichen Aufwärtsbewegung befindet, also jedes Album besser war als der Vorgänger, sind es die beiden ersten Alben der Band, Taster und Cranberry, zu denen ich am häufigsten zurückkehre. Beide zeichnen sich durch einen Duster-inspirierten, Lo-Fi-produzierten und irgendwo zwischen Slowcore, Slacker Rock und Bedroom Pop angesiedelten Sound aus. Anders als die kühlen, weltraumhaften Klanglandschaften von Duster, klangen Hovvdy, bei aller Melancholie, die ihre Songs durchzieht, aber schon immer warm und tröstlich. Es sind kleine Alben, die wirken, als würden zwei gute Freunde einfach bei sich im Zimmer rumhängen und zusammen entspannt vor sich hin musizieren, weil es eben das ist, was man mit Freunden an ziellos dahinwabernden Nachmittagen gemeinsam tut. Die Nachfolgewerke waren dann ebenso klein und sympathisch, klangen für mich aber immer zu viel nach professionellem Studio, wodurch sie einen Teil ihrer sympathischen Klangessenz – das Grobkörnige, ins Nichts verlaufende, dahin Improvisierte – einbüßten.

Das vor einigen Wochen erschienene mittlerweile fünfte Album der Band, das praktischerweise einfach Hovvdy heißt, bildet da keine Ausnahme und versöhnt mich auf eine eigentümliche Weise dennoch wieder mit ihrem Sound. Obwohl auch Hovvdy ausproduziert und professionell klingt, findet sich dort doch irgendwo wieder dieses wundervolle Gefühl von Zwanglosigkeit, Freundschaft und Komfort. Das Album ist nur knapp kürzer als eine Stunde und besteht aus insgesamt 19 Songs. Was aber in der Theorie nach großen Ambitionen für ein Indie-Album klingt, fühlt sich praktisch doch kaum innovativer oder größer gedacht an als das weniger als halb so lange Debüt der Band – das meine ich als Kompliment. Auch wenn hier und da mal das ein oder andere Klangexperiment durchschimmert – hier eine Drummaschine, dort etwas Auto-Tune, die ein oder andere Annährung an Popgesangsharmonien – ist das eine völlig kleine, umarmende Sammlung an Songs, die sich in der Ruhe deines Schlafzimmers besser ausbreiten können als in den Artikeln avantgardistischer Musikblogs. Man könnte wohl ein Trinkspiel machen, würde man jedes Mal trinken, wenn jemand hier das Wort „Friend“ oder „Light“ oder den Namen eines Familienmitglieds singt.

Das ist natürlich nur halb ernst gemeint, trifft für mich aber doch einen wahren Kern. Hovvdy, das ist für mich auch der Sound, um sich Zeit zu nehmen und den warmen Glanz einer über Raum und Zeit gepflegten Freundschaft oder Beziehung wirklich zu genießen. Es gibt ja oft noch diese ewiggestrige Sicht, dass Musik umso mehr künstlerische Tiefe besitzt, desto anstrengender sie zu hören ist und umso düsterer und depressiver sie in ihren Texten daher kommt. Ich hingegen glaube, dass es nur eine Handvoll Bands gibt, die einen so entspannt gluckernden, wohlklingenden und dabei doch super interessanten Song schreiben könnten wie „Bad News„.

Cola live

Nachdem in Hannover für einige Zeit ein wenig Flaute herrschte, was für mich interessante Konzerte angeht, und ich stets den Weg nach Hamburg auf mich nehmen musste, um das zu sehen, was gerade hot und interessant ist, scheint dieses Winterloch nun vorbei zu sein. Am Mittwoch war ich im Café Glocksee, um Cola zu sehen, und die Vorzeichen waren denkbar gut. Es war der Mittwochabend vor einem Feiertag, die Sonne schien, und es war das erste Konzert hier in Hannover und in der Glocksee für meine Freundin, mit der ich heute unterwegs war. Wir haben wie paar Gehminuten also zeitig auf uns genommen, um noch ein wenig im Innenhof der Glocksee zu sitzen und entspannt etwas zu trinken, bevor es losgehen sollte. Allgemein ist die Glocksee vermutlich mein liebster Konzertclub in Deutschland – und ich habe schon einige gesehen. Man ist direkt am Flussufer, es gibt einen wunderschönen Graffiti-besprenkelten Innenhof mit Bänken, Bäumen und einer Halfpipe, alles in allem also ein Ort, an dem ich auch gerne rumhänge, wenn gerade kein Konzert stattfindet. Heute wurde vor der Show wohl auch der vegane Grill angeschmissen. Wunderbar, auch wenn ich selbst gerade keinen Bedarf hatte. Der Club selbst ist ebenfalls fantastisch. Die Bühne ist halbhoch, es gibt keine Absperrung, und man kann im Grunde von überall gut sehen.

Abgesehen davon gehe ich aber vor allem gerne in die Glocksee, weil das Publikum so gut wie immer absolut angenehm ist. Zwar sind die Leute nicht so abgeklärt kennerhaft wie in Hamburg oder Berlin, aber dafür durch und durch begeisterungsfähig. Es ist eben immer noch Hannover, und da ist es immer etwas Besonderes, wenn eine Indie-Rock-Band aus Kanada zu Besuch kommt, und man freut sich merklich und ist dankbar. Bei vielen Konzerten in der Glocksee kennen Teile des Publikums vorher die Acts nicht wirklich, aber nach spätestens zwei, drei Songs sind alle euphorisiert und tanzen vor der Bühne. Nirgendwo habe ich so viele tatsächlich ungeplante Zugaben gesehen wie hier, einfach weil die Leute keine Ruhe gegeben haben. Man erlebt also meistens echt gute Abende dort, egal was spielt. Selbst bei Cola, einer Band, die nach minutenlangen Anforderungen seitens des Publikums verlauten ließ, dass man grundsätzlich niemals Zugaben spiele, sei man nach Auskunft von Sänger und Gitarrist Tim Darcy „heute wirklich knapp davor gewesen“.

Cola kommen aus Quebec, Kanada, und spielen im Wesentlichen post-punk-beeinflussten Indie-Rock, also grundsätzlich Musik, die in den letzten Jahren wieder stark an Popularität gewonnen hat. Idles verkaufen Mehrzweckhallen aus, Fontaines D.C. spielen auf den Hauptbühnen von Major-Festivals, und Ants From Up There von Black Country, New Road, ist eines der am besten bewerteten Alben auf der Musikschwarmintelligenzwebsite RateYourMusic – und zwar aller Zeiten. Gemeinsam haben die genannten Bands und auch die meisten artverwandten Acts der Gegenwart, dass ich ihnen meist nur wenig abgewinnen kann. Es gibt zwar hier und da vereinzelt mal Songs, die ich mag, aber meistens löst das alles nur Achselzucken aus. Mein letzter Versuch, mich mit dieser Szene zu versöhnen, war 2022 beim Primavera Sound, als ich mir die erwähnten und gerade ziemlich gehypten Fontaines D.C. angesehen habe. Um mich herum baute sich im Publikum die unangenehme Atmosphäre betrunkener Britishness auf, die Musik war uninteressant, und der Sänger inszenierte sich als peinlich-machohafte Liam Gallagher-Imitation auf der Bühne. Die Versöhnung fiel aus. Dass ich mich nun trotz dieser generellen Antipathie sehr auf den heutigen Abend gefreut hatte, lag, das muss ich zugeben, noch mehr an Ought, der Band, deren kreatives Zentrum Sänger und Gitarrist Tim Darcy und Bassist Ben Stidworthy waren, als an Cola selbst.

Ought waren für mich eine der quintessenziellen und besten Gitarrenbands der 2010er-Jahre. Auch wenn da immer die Schuldmünze auf The Fall ausgestellt werden musste, besonders beim stark von Mark E. Smith inspirierten lakonisch-monotonen Gesang Darcys, klangen Ought doch ganz und gar einzigartig. Es war diese Mischung aus ausschweifenden, mit Gitarren- und Synth-Klängen gesprenkelten, pluckernden Songs, die oft die 5-Minuten-Marke überschritten, gepaart mit Darcys lakonisch vorgetragenen, wie aus dem Ärmel geschüttelt wirkenden Gefühlsanalysen einer Gegenwart, in der der Mensch allzeitverbunden mit allem und jedem ist und doch gleichzeitig immer einsamer, die Ought zu einer meiner Lieblingsbands machen. Ich habe sie nur einmal live sehen können, 2015 beim Dockville Festival in Hamburg, doch an die Performance von „Beautiful Blue Sky“, ihrem besten Song und vermutlich einem der zehn besten Songs der Dekade, denke ich noch öfters. 2021 haben Ought ihre Auflösung bekannt gegeben, und noch am gleichen Tag riefen Darcy und Stidworthy Cola aus und veröffentlichten „Blank Curtain“, die Lead-Single zu Deep in View, dem Debütalbum, das kurze Zeit später veröffentlicht werden sollte.

Cola klingen klar wie die spirituellen Nachfolger von Ought, unterscheiden sich aber doch merklich. Die Songs sind kürzer und weniger mäandernd, es gibt nun klassische Refrains, und Tim Darcys Gesang ist deutlich kompakter und weniger ausfransend als es noch bei Songs wie „Habit“ der Fall war. Ich mag Deep in View sehr gerne, die emotionale Höhe von Oughts More Than Any Other Day oder Sun Coming Down erreicht es aber nicht. Die Single „Bitter Melon“ vom im Juni erscheinenden Album hingegen hat mich auf Anhieb direkt gecatcht. Über sechs Minuten lang schleichen sich Darcy Gitarre und Stimme gemein-sam durch das subtil vor sich hin tuckernde Rhythmusgerüst des Songs. Das klingt nicht direkt wie Ought, aber auf andere Art ganz fantastisch. „Bitter Melon“ war auch live für mich das Highlight heute.

Die Glocksee war gut gefüllt heute, aber nicht so voll, dass man nicht tanzen konnte. Und es wurde getanzt. Anders als die Songs von Ought bieten sich die kompakteren, teilweise sogar mit Hooks versehenen Songs von Cola auch für Bewegung an. Spätestens als nach 20 Minuten der Refrain von „At Pace“ ertönte, am ehesten das, was man einen Hit nennen könnte bei einer Band, die eigentlich keine Hits schreibt, war der Raum gewonnen. Die Hälfte des Sets bestand aus Songs vom kommenden Album – und das, was ich gehört habe, versetzt mich in Vorfreude. Tim Darcys Bühnenpräsenz, die schüchtern und absolut einnehmend zugleich wirkt, hypnotisierte die Menschen um mich herum, es gab kaum Ansagen, der Drummer war in Trance, ein Song nach dem nächsten wurde gespielt. Nach ungefähr einer Stunde war Schluss. Es war fantastisch.

Soundexegese vesus Gedichtanalyse: Über Klang schreiben

Letzte Woche war ich im Hamburger Mojo-Club, wo DIIV gespielt haben. DIIV ist eine US-amerikanische Band, die von Zachary Cole Smith als Mastermind und Strippenzieher vor mehr als 10 Jahren gegründet wurde und mit Oshin ihr großartiges Debüt veröffentlicht hat. Mit ihrem letzten Album Deceiver sind sie aber endgültig in Richtung des Genres abgebogen, das schon immer durch ihre Songs schimmerte: Shoegaze. Inzwischen schreiben sie ihre Musik demokratisch als Kollektiv, und das Ergebnis ist wunderbare, honigwabenartige Gitarrenmusik, die innerhalb der zwei großen Kirchen des Shoegaze der Tradition des Noise von My Bloody Valentine näher steht als dem Dream von Slowdive. Die Gitarrensignale werden durch zahlreiche Effektgeräte gezirkelt, bis sie extraterristischen Signalen näher stehen als sogenannter ‚handgemachter‘ Rockmusik. Der Hall ist auf Endlosschleife hochgeregelt, und die Stimme – das soll für diesen Text zentral sein – wabert irgendwo als zarter Hall in den Hintergrund gemischt vor sich hin. Die Lyrics sind nicht irrelevant, aber spielen eine untergeordnete Rolle. Sie sind keine Poesie im engeren Sinne, sondern atmosphärische Zeichen, die den Sound vertiefen. Also das Gegenteil von einem großen Teil melancholischer Popmusik, in der zuerst die Textzeile über das Verlassenwerden steht und dann zwei, drei Mollakkorde folgen, um dem Wort ‚Tiefe‘ zu verleihen.

Nach dem (nebenbei bemerkt: fantastischen – aber das soll kein Konzertreport werden) Konzert tauchten die Menschen aus ihrem soundwallartigen K-Hole wieder auf, und der Club leerte sich langsam. Erste Eindrücke verbalisierten sich in der Luft. Zufriedenheit. Nur eine Kritik gab es: Das Mikrofon, also der Gesang, also die Lyrics, die wären zu leise gewesen. Man hätte nichts verstehen können. Diese im Vorbeigehen aufgeschnappten Zeilen blieben bei mir hängen. Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, dass man bei einem Shoegaze-Konzert ausgerechnet die Klarheit der Vocals vermissen könnte, inmitten der außerkörperlichen Erfahrung einer Wall of Sound, die sich um einen legt, wie eine warme, verschwommene Umarmung. Aber für so viele Menschen scheint der Text eines Songs so etwas wie seine Essenz, sein schwirrendes Zentrum, zu sein, um das der Klang zu kreisen hat wie Planeten um ihren Stern. Warum nur hat kein Liebespaar seinen typischen ‚Unser Song‘-Moment, beim Hören eines Sounds? Warum passiert das immer bei einer Textzeile? „To die by your side is such a heavenly way to die.“ Dabei gäbe es doch wenig Schöneres als es zu fühlen, während sich die Euphorie bahnbrechend in dem Moment, wenn in Fishmans Long Season nach knapp zweieinhalb Minuten das Piano einsetzt.

Sound versus Lyrics

Die Frage nach dem Verhältnis von Sound und Text in der Popmusik und auch in der Musikkritik interessiert mich schon länger. Etwas so Abstraktes wie die Wirkung von Sound und Klang in die konkrete Form des Wortes zu gießen, ohne dass dabei so etwas wie die Essenz verloren geht, ist schwierig. Schiefgehen kann vieles. Texte über Musik, die eigentlich nur ein subjektivistischen Abgleich der Lyrics mit den eigenen Befindlichkeiten durchführen und dabei, was den Sound angeht, höchstens noch den Stil des Gesangs oder gar nur der Stimme miteinbeziehen. Das ist der Hörer von “Your Deep Rest” von The Hotelier, der auf dem Schmerz in der Stimme von Christian Holden verweist, wenn sie in einem karthatischen Moment mit brechender Stimme “I called in sick from your funeral” schreit. Denn den Schmerz habe man als 20-Jähriger schließlich selbst verspürt.

Trostloser noch wird es, wenn man sich die sogenannte politische Musik anschaut. Die Exegese geht dann nicht selten nur noch so: Man liest den Text eines Songs und schaut, ob dieser mit dem zusammenpasst, was man irgendwo während irgendeines wahlweise Soziologie- oder Geschichtsseminars aufgeschnappt hat. Dann referenziert ein Lyricfetzen in einem fuchtbaren Beispiel politischer Nicht-Musik wie Danger Dans “Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt” plötzlich schon mal auf “intelligente Weise” die Dialektik der Aufklärung – und das soll dann auch noch etwas Gutes sein. Und am Ende wollen sie einen überreden, Billy Bragg nicht grässlich zu finden. Manchmal frage ich mich, was solche Kritiker über einen Song wie “Mladic”, mutmaßlich benannt nach dem bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher gleichen Namens, von Godspeed You! Black Emperor schreiben würden. Denn das ist politische Musik, die sich nur durch ihren Sound, ganz ohne Text und ohne Vocals-Samples, in 20 wütenden Minuten in ein politisches, apokalyptisches Wutgefühl hineineskaliert, wie es keine andere Kunstform in dieser Form (und darum geht es) vermag. “I’d punch a Nazi to Mladic” schrieb ein User auf Reddit – und wer einmal hört, wird es fühlen.

Natürlich gibt es auch unzählige Texte, in denen Autor*innen Worte finden, die Musik als Sound auf eine Weise erfassen, die so gut ist, so perfekt passende Bilder in meinem Kopf produziert, dass ein Hören der Alben, ohne diese textförmigen Begleitbilder, für mich unmöglich wird. Aphex Twins Selected Ambient Works Vol. II wurde mal von Richard D. James selbst perfekt mit “standing in a power station on acid” umschrieben. Wer einmal die schimmerig-sirrenden Klanglandschaften, die James dort aufbaut durchschritten hat und nach Worten ringt, wird sich vermutlich in genau dieser Umschreibung verstanden fühlen. Oder Mark Fishers Gedanken zu der “unheiligen Dreifaltigkeit” von The Cure – gemeint sind die drei aufeinander folgenden Alben Seventeen Seconds, Faith und Pornography. Über das in diesem Dreigestirn tendenziell am wenigsten besprochene mittlere Album schreibt Fisher, die Lieder klängen “nicht still, sondern beruhigt, schwer wie ein Downer; nicht ozeanisch, sondern durchtränkt wie ein Sumpf”. Faith scheine “von einem anderen Planeten zu kommen, wo die Gravitation schwerer wiegt”. Dieser Text hat das Album in meiner Rezeption um Dimensionen verschönert und, soweit würde ich gehen, überhaupt erst den Raum geschaffen, in dem es mittlerweile zum für mich besten Werk der Band und einem meiner liebsten Alben generell heranreifen konnte.

Der Möglichkeitsraum, das Werkzeug, das alles liegt schon da. Und wird doch, das zumindest ist mein Eindruck beim Lesen vieler Texte über Musik, meist genutzt, um Klänge umzuschnitzen in Gedichte, anstatt ihnen ihre Anders- und Einzigartigkeit zuzugestehen. Gedichtanalyse statt Soundexegese.

More Brillant Than the Sun

In seinem musikbewusstseinserweiternden Buch More Brilliant Than the Sun (oder in der genialen Übersetzung von Dietmar Dath: Heller als die Sonne) schreibt der britische Kulturtheoretiker und Künstler Kodwo Eshun über die Verbindung zwischen Afrofuturismus, Science Fiction und schwarzer elektronischer Musik. Eshun erkundet in seinem Buch, wie die afrikanische Diasporakultur eine soundästhetische Revolution in Gang setzt, die herkömmliche Grenzen sprengt und eine futuristische Klanglandschaft erschafft. Dieser Analyse vorangestellt ist allerdings eine Kritik am (weißen) Gegenwartsmusikjournalismus, in der er auch die Bevorzugung des Songtextes über den Klang adressiert:

Seit den 80er Jahren hat sich die britische Mainstream-Musikpresse der schwarzen Musik höchstens zur Erholung und zum Ausspannen von den Komplexitäten der weißen Gitarrenrockmusik zugewandt. In dieser lächerlichen, auf den Kopf gestellten Welt bleibt es Gitarren vorbehalten, den Zeitgeist auszudrücken, während die Rhythmaschine in retardierter Unschuld gefangengehalten wird. Ein Songtext bedeutet stets mehr als ein Sound. Die Texte zu theoretisieren ist gestattet, aber den Groove zu analysieren hieße angeblich den körperlichen Genuss zu vernichten, dem Groove die Essenz auszupressen.

Kodwo’s Buch liefert neben der Kritik am schreiberischen Konsens mit der Erfindung zahlreicher Neologismen auch gleich noch das Vokabular mit, um endlich anders über Musik nachdenken zu können. Da werden Beats zu Futurhythmaschinen, der US-amerikanische elektronische Jazz zwischen 1968 und 1975 zu afrodelischen Weltraumprogrammen oder George Russels Electronic Sonata for Souls Loves by Nature als panstilistische Fragmentmusik gedeutet. Alles geht, solange die neue Sprache eine Annäherung an den Sound ermöglicht. Ein anderes Hören. Ich persönlich habe mehrere Anläufe, egal ob auf Englisch oder Deutsch, gebraucht, um Eshuns Werk zu bezwingen. Das lag einfach daran, dass die Art, in der da versucht wird, über Musik und Kultur nachzudenken, nicht nur anders schmeckt als die Speisen, die sonst serviert werden, sondern gleich einen völlig anderen Aggregatzustand hat. Man fühlt sich zunächst wie ein Mann mit einem Löffel in einer Welt voller Suppe (Noel Gallagher beschrieb so einmal seinen Bruder Liam. Und auch, wenn ich sonst kein großer Oasis-, geschweige denn Gallagher-Gossip-Fan bin, muss ich im Alltag oft an diesen Satz denken). Und dann lernte ich die Sprache, später verstand ich. Zumindest ein wenig. So schwierig und theoretisch komplex Eshuns Werk für mich war, wünsche ich mir doch mehr von solchen Wagnissen und Experimenten zu finden auf meinen Streifzügen durch die popkulturellen Landschaften.

Leerstellen für Fantasie

More Brilliant Than the Sun war einer dieser Momente, in denen ich erstmals das Gefühl hatte, etwas in konkrete Worte gegossen zu sehen, das sich für mich schon lange wie eine abstrakte Dissonanz zwischen meinem und dem Musikhören der meisten meiner Freund*innen anfühlte, aber von mir nie so richtig auf den Punkt artikuliert werden konnte wie von Kodwo Eshun. Dieser Fokus auf die Lyrics, den ich – auch wenn Eshun natürlich aus einer anderen Richtung kommt und viel weiter geht – nie wirklich gefühlt habe. Englisch ist nicht meine Muttersprache, und das Hören von englischsprachiger Musik war für mich dementsprechend ein ausschließlich auditiver Prozess. Meine Mutter hatte irgendwann einmal – ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt – Room on Fire von den Strokes und Jimmy Eat Worlds Clarity als gebrannte, unbeschriftete (ich wusste also jahrelang nicht mal annähernd, was ich da hörte) CDs von einem Freund geschenkt bekommen. Das waren meine beiden Lieblingsalben, und ich verstand: Nichts. Aber fühlte alles – nur über den Sound (einige Zeit später wurden sie dann von der Eminem Show abgelöst. Und auch da verstand ich natürlich weiterhin nichts). Ich weiß heute immer noch nicht, um was genau es in „12:51“ geht, aber bin mir sicher, dass es in dieser coolen, wie beiläufig performten Art mein Lieblingssong von den Strokes ist. Und bis heute liebe ich diesen Zwischenzustand des Nicht-ganz-Verstehens und habe umgekehrt oft das Gefühl, dass eine allzu große Kenntnis der meisten Songtexte die Musik für mich eher verzwergt, als sie zu erweitern.

Deshalb stört es mich nicht nur nicht, bei einem DIIV-Konzert die Lyrics nicht zu verstehen, ich finde das sogar gut (lustigerweise gab es in der ansonsten atmosphärisch-verwaschenen Lichtshow zwischendurch auch Passagen, in denen die Lyrics der neuen Songs karaokemaschinenartig eingebunden wurden. Das waren nicht die elegantesten Momente). Erst die Leerstellen lassen das Licht hinein und laden ein in Gitarrenwände, die stets drohen, die gehauchten Vocals zu verschlingen, zu versinken.

Playlist zum Text: