Wasting the Weekends #2: 8 Takeaways vom Primavera Sound Festival 2024

What’s up, willkommen zur zweiten Ausgabe von Wasting the Weekends – dem schriftlichen Versuch, meine Hörerlebnisse der letzten Zeit ein wenig zu ordnen und inmitten des aufmerksamkeitsspannen-zersetzenden Alltags zu konservieren. Und nebenbei sollte dann auch noch so etwas wie ein kleines Empfehlungsschreiben der besten und interessantesten Popmusik, die es aktuell zu hören gibt, herausspringen. Diese Woche geht es monothematisch zu, denn ich war mittlerweile zum 8. Mal beim Primavera Sound in Barcelona. Das Primavera Sound ist für mich in seiner Mischung aus Städtetrip in eine der schönsten Städte Europas, Strandurlaub, gutem Essen, Ferienwohnung statt Zelt, einzigartigen Clubkonzerten und dem Jahr für Jahr – trotz aller Veränderungen – besten Line-Up der Welt mein absolutes Lieblingsfestival.

Viel hat sich verändert, seitdem ich 2015 das erste Mal vor Ort war – und schon damals wurde mir von denen, die noch länger da waren, gesagt, nichts mehr sei wie früher. Alles zu groß, zu viele Bühnen, zu viele Menschen. In den Jahren, die ich Barcelona mittlerweile besuche, ist aus einem Indie-Festival, auf dem Menschen mit Bandshirts von obskuren 90er-Noiserock-Bands rumlaufen, ein Indie-Festival, auf dem Menschen mit Bandshirts von obskuren 90er-Noiserock-Bands rumlaufen, das aber in ein viel größeres Festival slash Lifestyle-Event integriert ist, geworden. For the better and for the worse. Musikalisch war ich immer Unterstützer der Neuausrichtung hin zu mehr Pop, mehr schwarzer Musik, mehr Weiblichkeit, Queerness etc. Auch die damit einhergehende Veränderung weg von einer recht homogenen, eher männlichen Indie-Crowd und hin zu einem sehr queeren, diversen Publikum empfand ich immer als angenehm – von der gesellschaftlichen Relevanz mal abgesehen.

Trotzdem: Insgesamt mochte ich das Festival früher ein wenig lieber, als die Musik noch trotz allem Sponsorings der absolute Mittelpunkt der Veranstaltung war. In den Jahren ist aus dem Musikfestival ein globales Unternehmen geworden, das Gelände wirkt ziemlich überfrachtet, was zu Soundmatsch führt, und vielerorts scheint das Lifestyle-Event wichtiger zu sein als die Musik an sich. Dennoch hatte ich wieder einmal eine absolut fantastische Woche und habe wahnsinnig viel gute Live-Musik gesehen. Zu viel, um über alles zu schreiben, deshalb hier acht Takeaways meines diesjährigen Besuchs des besten Festivals der Welt.

1. Allein das, was ich nicht gesehen habe, würde eines der besten Line-Ups des Jahres für mich sein

Einer der schönsten und traurigsten Tage des Jahres für Primavera-Gänger*innen liegt meist ungefähr zwei Wochen vor dem eigentlichen Festival: die Veröffentlichung des Timetables. Man kann anfangen, akribisch zu planen, Clashfinder durchforsten, sich noch in Acts reinhören mit der Gewissheit, sie auch tatsächlich sehen zu können, sich vorfreuen. Die Schattenseite dieses Tages liegt darin, dass leider auch klar wird, was man alles verpassen wird. „Weine nicht über verpasste Acts, sondern freue Dich über all das, was du sehen kannst“ ist leichter gesagt als getan, wenn in die erste Kategorie Beth Gibbons fällt.

Die Portishead-Sängerin, vermutlich meine Lieblingsvokalistin überhaupt, würde man mich unter Drohungen zwingen, eine zu wählen, hat am Donnerstag ihre einzige Festivalshow in diesem Jahr auf der ehemaligen Ray-Ban-Stage, einer amphitheaterartigen Bühne mit Blick aufs Mittelmeer und für mich die vielleicht schönste Festivalstage überhaupt, gespielt. Ich war stattdessen bei Vampire Weekend (es war fantastisch und ich bereue nichts) und habe auf dem Rückweg am akustischen Horizont noch die ersten Takte von Portisheads „Roads“ vernehmen können. Nicht nur, dass sie Songs ihres großartigen, vor einigen Wochen erschienenen Albums Lives Outgrown gespielt hat, nein, jetzt auch noch fucking Portishead.

Aber wäre ich weder bei Vampire Weekend noch Beth Gibbons gewesen, hätte man mich in ätherischer Glückseligkeit schwelgend bei den eigentlich immer obskuren, aber kürzlich zu TikTok-Fame gelangten 90er-Slowcore-Ikonen Duster finden können, die auf der kleinsten Festivalbühne ihr erstes und wohl auch einziges Europa-Konzert überhaupt (die Band gibt es seit 1996) gespielt haben. Oder im Warehouse, einer beton-brutalistischen Tiefgarage, die während des Festivals zu dem wird, was am ehesten einem Berliner Club entspricht, bei der Hyperdub-Labelnacht. Dort haben unter anderem Aya, Nazar, Kode9 und Tim Reaper, also so ziemlich die coolste gegenwärtige elektronische Musik made in UK überhaupt, aufgelegt. Oder eben Billy Woods, dessen Verpassen zum Glück nur halb so weh tat wie befürchtet, weil er am Vorabend noch ein Armand Hammer-Set im Club gespielt hatte. Ihr seht also: Schönheit und Schmerzen liegen nah beieinander hier – oft nur einige hundert Meter.

2. Egal in welcher Phase meines Musikhörens ich mich gerade befinde, das Primavera ist immer ein perfektes Match

Musikhören läuft bei mir oft in Phasen ab, die irgendwann anfangen und dann einige Monate später abrupt aufhören können. Also höre ich einige Monate superviel Jungle, dann ändert sich mein Fokus auf gegenwärtigen Jazz, dann wieder viel Punk und so weiter. Das wird dann davon begleitet, dass ich in der Zeit oft viel Literatur über die jeweiligen Szenen, Genres, Musiker*innen etc. lese, Podcasts höre, Videos schaue, durch Rate Your Music doomscrolle. Je nachdem, in welcher Phase ich mich befinde, ändert sich natürlich auch mein Plan für all das, was ich im jeweiligen Primavera-Jahr gern sehen würde.

Letztes Jahr habe ich im ersten Halbjahr superviel Hip-Hop gehört und dementsprechend auf dem Festival meine Entscheidungen getroffen: Pusha T statt Turnstile, Baby Keem statt Julia Holter, lieber JPEGMAFIA und nicht Jayda G, Kendrick und nicht Four Tet. Wäre ich zum gleichen Festival jetzt gefahren, wäre sicher alles anders gekommen, denn aktuell höre ich wieder superviel gitarrenaffine Alternative Music. Mit der Hip-Hop-Phase aus 2023 hätte man mich bei dieser Ausgabe sicher bei Madlib & Freddie Gibbs, die zum zehnjährigen Geburtstag ihr Meisterwerk Piñata komplett gespielt haben, bei Clips und ihrem exklusiven Europa-Gig oder Roc Marciano gefunden, war ich stattdessen woanders: bei Scowl, Militarie Gun, Mannequin Pussy und Wiegedood, bei Vampire Weekend und Yo La Tengo.

Was mich jedes Jahr wiederkommen lässt, ist – neben der Stadt, dem Wetter, dem Gelände, all dem – genau das: diese riesige Breite UND Tiefe UND Vielfalt. Selbst als J-Pop-Enthusiast kannst du hier das erste Europa-Konzert überhaupt von den großartigen Atarashii Gakko! sehen. Es gibt unzählige Pfade durch das Wochenende, sodass es wirklich schwer ist, keine absolut gute Zeit zu haben.

PJ Harvey im strömenden Regen mit einem All-Time-Primavera-Konzert

3. Die Routiniers zeigen wie es gemacht wird

Nachdem der Headliner-Auftritt von Lana Del Rey am Freitag viele harsche Kritiken nach sich gezogen hatte (dazu später mehr), wurde im Primavera-Subreddit nach dem Konzert von PJ Harvey tags darauf ein Bild von ihrem Auftritt mit der so einfachen wie vielsagenden Byline „Take notes, Lana“ gepostet. Wie weit dieser Vergleich trägt, in Anbetracht der Tatsache, dass beide Künstler*innen wenig gemeinsam haben außer ihrem Geschlecht und ihren weißen Kleidern, sei mal dahingestellt. Aber dennoch war es auch für mich ein Festival, auf dem gerade Acts, die schon seit mehr als 30 Jahren Musik machen, mit die besten und frischesten Konzerte gespielt haben. Ich stelle das hier so heraus, da ich normalerweise dazu neige, eher skeptisch zu sein, wenn irgendeine Band, deren Mitglieder mittlerweile auf die 60 zugehen oder sogar bereits passiert haben und die ihren künstlerischen Zenit längst überschritten haben, auf irgendeinem Line-Up-Poster auftaucht. Nicht, weil mich – so wie es für viele andere (insbesondere bei Reunion-Konzerten) der Fall zu sein scheint – das zugrunde liegende Motiv, nochmal schnell groß abzukassieren, stört, sondern weil die Kunst und die Musik selbst oft nicht mehr zünden. Wo früher mal interessante, innovative und coole Musik, die Teil ihrer jeweiligen Gegenwartskultur war, zu finden war, ist heute oftmals nur noch angestaubter, entkontextualisierter Museumsrundgang angesagt.

In diesem Jahr waren es aber genau diese Konzerte, die mich komplett mitgerissen haben. Wenig überraschend war das für mich bei Yo La Tengo, einer meiner absoluten und ewigen Lieblingsbands, deren zwischen den abgefucktesten Noise-Ausbrüchen und den leisesten und zartest gehauchten Akustikgitarrensongs pendelnder Indie-Rock sowieso schon immer so eine über den Dingen schwebende, intime Qualität hatte, dass man sich nie Sorgen machen musste, er würde irgendwann aus der Zeit fallen. Sowieso schon zur ständigen Innenausstattung des Festivals gehörend, durfte das Trio aus Hoboken, New Jersey, in diesem Jahr sogar gleich zweimal spielen. Auf dem regulären Festival haben sie ein normales Set auf der ihnen eigentlich unwürdigen, parkplatzästhetischen Amazon Music-Stage gespielt. Eine Stunde, eigentlich viel zu kurz für eine Band mit diesem Backkatalog, aber doch genug, um ein wundervolles Set zu spielen, gespickt mit Songs ihres Vorjahresalbums This Stupid World (welche andere Band bringt eigentlich noch so gute Musik raus knapp 40 Jahre nach ihrer Gründung?), aber auch unverwüstlichen Indie-Klassikern wie dem immer wieder wunderschönen „Autumn Sweater“ oder der als Closer gespielten und live auf knapp zwölf Minuten gestreckten Gitarreneskalation „Blue Eyed Swinger“, einem meiner absoluten Lieblingssongs überhaupt.

Zwei Tage zuvor allerdings hat Yo La Tengo bereits einen weiteren, diesmal fast zweistündigen und mit dem Zusatz „play Covers“ angekündigten Auftritt im Sala Apolo gespielt. Ein Auftritt, der mich mehrere Male das Licht hat sehen lassen, so gut war es. Gespielt wurden Songs von Black Flag, den Urinals und Dream Syndicate über Sun Ra und Daniel Johnston bis hin zu ihren ewigen Lehrmeistern von The Velvet Underground – alles im Signature Style der Band und mit einer passionierten Gelassenheit, wie man sie wahrscheinlich erst erlangt, wenn man seit 30 Jahren zusammen Musik macht. „Heroin“ als 15-minütiges Feedback- und Distortion-Gewitter, zart gehauchte, von Georgia Hubleys engelsgleicher Stimme getragene Versionen von „Sunday Morning“ und Sandy Dennys „By the Time It Gets Dark“, punkige Zweiminüter wie das Steve Albini gewidmete Cover von Cheap Tricks „He’s a Whore“ – alles wurde gespielt, es war magisch.

Von dem Headliner-Auftritt von PJ Harvey, ebenfalls schon weit über drei Jahrzehnte als Musikerin prägend, hatte ich mir persönlich im Vorfeld gar nicht so viel versprochen. Meist legt sie bei ihren Konzerten einen starken Fokus auf ihre aktuellen Alben – und diesmal wäre das das intime, poetryeske I Inside the Old Year Dying aus dem letzten Jahr gewesen. Ich mag das Album in seiner poetischen Ruhe sehr, aber dachte, es sei für die Mainstage eines Major-Festivals gänzlich ungeeignet. Was PJ Harvey und ihre großartigen Begleitmusiker*innen dann aber gezeigt haben, war vielleicht eines der besten Konzerte, die ich gesehen habe. Wenige Minuten bevor es losgehen sollte, brach – und das habe ich in meiner kompletten Primavera-Lebensspanne noch nicht erlebt – der Himmel auf. Und zwar richtig, nicht als Schauer, sondern stundenlang und so heftig, dass sich gleich mehrfach bei denen bedankt wurde, die vor der Bühne verharrten. Aber was blieb ihnen auch übrig? Denn was sie sahen, war ein Konzert von durchdringender und ätherischer Schönheit.

Leise ging es los mit einigen Songs vom aktuellen Album, bevor eine Let England Shake-Sektion, einem meiner Lieblingsalben der 2010er-Jahre, inklusive des schwerelos klingenden Titeltracks folgte. Alle Musiker wirkten wie eingelockt, nichts als Regen und Musik. So fragil, doch auch so hypnotisch, dass selbst die passioniertesten spanischen Konzertquatscher irgendwann schwiegen oder sich selbst so deplatziert fühlten in der melancholischen Ruhe, die dort auf der Bühne performt wurde, dass sie das Weite suchten. In der Mitte des Konzerts kam dann dieser Moment, als aus einem sehr guten Auftritt ein absoluter Primavera-Alltimer wurde. Nach einer kurzen, aufrichtigen Widmung und Ansprache für Steve Albini spielte PJ Harvey allein und nur mit Akustikgitarre das wunderschöne „The Desperate Kingdom of Love“. Es mag klischeehaft klingen, doch es war, als würde der Himmel weinen. Und die Leute um mich herum taten es auch. Nicht vor Trauer, sondern vor Schönheit. Es lag diese Atmosphäre in der Luft, die man auf Konzerten nur selten verspürt. Zum Ende hin und nach diversen Klassikern in einem – entgegen meinen Erwartungen – sehr ausgewogenen, sich durch das gesamte Schaffen dieser begnadeten Musikerin ziehenden Auftritt wurde der traurig-schöne, minimalistische und doch brachiale Titeltrack von ihrem vielleicht bekanntesten Album To Bring You My Love gespielt. „And I’ve traveled over / Dry earth and floods / Hell and high water / To bring you my love“ – und aus dem Regen wurde ein Gewitter.

Yo La Tengo Covers-Only-Show im Sala Apolo

4. Es ist die beste Zeit überhaupt, um Vampire Weekend zu sehen

Seitdem ich 2015 das erste Mal beim Primavera Sound war, waren Vampire Weekend quasi der Act, den ich dort mit am liebsten sehen wollte, neben einigen mehr oder weniger unmöglichen Kandidaten wie Boards of Canada oder My Bloody Valentine. Jahr für Jahr habe ich ans Universum appelliert, Jahr für Jahr wurde nichts daraus. Bis zu diesem Jahr. Im November wurden Vampire Weekend bestätigt. Da bis dahin noch nicht viel über ein neues Album bekannt war und auch sonst nichts auf Liveaktivitäten hingedeutet hatte zu dem Zeitpunkt, war das eine wundervoll warme Überraschung. Zumal es der einzige Auftritt in Festlandeuropa sein sollte in diesem Sommer. Trotzdem war ich auch, wenn auch nur ein wenig, skeptisch. Nach drei für mich mehr oder weniger perfekten Indie-Alben stieg 2016 der – so dachte man über seine Rolle – kreative Taktgeber Rostam aus der Band aus und einige Zeit später wurde das in meinen Augen, trotz all der schönen Momente, eher unausgegorene Album Father of the Bride veröffentlicht. Es war nicht furchtbar und ich mag es auch, wenn Bands versuchen, ihren Sound neu zu denken, aber am Ende ist Vampire Weekend dann grandios, wenn sie den besten Indie-Rock der letzten 15 Jahre spielen und nicht in mittelmäßiger Country-Experimentation.

Nach den ersten Singles und schließlich der Veröffentlichung vom aktuellen Album Only God Above Us waren diese Zweifel schnell zerstreut. Es ist fast ungeheuerlich, wie gut das alles ist, ein Return to Form-Album und doch eine nuancierte Weiterentwicklung zugleich. Die Gitarren sind verzerrter und krachen mehr, Ezra Koenigs Texte fußen weniger in cleveren Wortspielen als früher und sind dafür von einer großen, warmen Menschlichkeit durchzogen, aber im Kern ist das immer noch diese Band, die Melodien, für die andere Bands ihre Eltern verkaufen würden, mit einer Mühelosigkeit aus dem Ärmel schütteln kann, die fast schon frech erscheint. Auch die Berichte von den ersten Konzerten ließen Großes erwarten. Ein zweiter Perkussionist war dabei, genau wie ein Saxofonist, jemand der Geige spielt und gefühlt noch zig andere Menschen, die dem Sound eine neue Tiefe und Textur verleihen sollten. Und ihr Headliner-Konzert beim Primavera war dann schließlich auch genau der Moment, den ich mir erhofft hatte.

Das selbstbetitelte Debüt wird wohl auf ewig mein Favorit der Band bleiben. Es ist eines meiner absoluten Lieblingsalben. Und doch bin ich froh, Vampire Weekend zu genau diesem Zeitpunkt noch einmal sehen zu dürfen, denn gerade live ist die Band besser denn je. Die neuen Songs – vielleicht DER Hit „Classical“, das wunderschön-zarte „Capricorn“ oder der Indie-Rock-Treat „Gen X-Cops“ – klingen, obwohl das Album sehr ausproduziert ist, großartig live, aber vor allem auch ältere Songs bekommen durch das neue Live-Outfit nochmal komplett neue Facetten. Die Band spielt sich ausgewogen durch ihren kompletten Backkatalog, von den unverwüstlichen frühen Hits wie „Oxford Comma“ und „Campus“ über Deepcuts des immer noch wundervoll-verqueren und unterschätzten Zweitwerks Contra bis zum so ungewöhnlichen wie großartigen Closer „Ya Hey“ von Modern Vampires of the City. Es ist ein unglaublich detailreicher, tiefer Live-Sound, bei dem trotzdem jeder noch so kleine Percussiondrop oder Violinelauf live produziert wird. Das letzte Mal, dass ich so eine akribische Nuanciertheit auf einem Konzert gesehen habe, dürfte 2016 bei LCD Soundsystem gewesen sein, bei denen ebenfalls jeder noch so kleine Synthsound irgendwo aus der Bühne hergestellt wird.

Vampire Weekend versprühen aktuell live diese Art Passion, wie sie die früheren Konzerte von Arcade Fire ausgestrahlt haben, machen dabei aber die viel bessere Musik und wirken auch nicht so verflucht angestrengt. Mit einer Hand in der Hosentasche schlendert Ezra zu Beginn auf die Bühne, als würde er nur kurz vom Sofa aufstehen, um sich ein Getränk aus dem Kühlschrank zu holen und nicht ein Headliner-Konzert vor zehntausenden Menschen spielen. Eine Kombination aus Familie-Park-in-Parasite-artiger Gelassenheit und der funkigen Passion der Stop Making SenseTalking Heads geht von der Bühne aus. Nach mehr als einer Stunde Konzert ist da nirgends ein Schweißtropfen zu sehen und trotzdem hat man das Gefühl, dass alle alles, also wirklich ALLES, über das sie verfügen, in ihren Auftritt hineingelegt haben.

5. Guck dir Acts mehrmals an

Es gibt diesen aus der antiken griechischen Dichtung stammenden Satz: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.“ Heute würde man vielleicht von Spezialisten und Generalisten sprechen. Der Punkt für mich ist: Ich war immer der Igel, der Spezialist, derjenige, der den Deepdive macht. Es gibt viele Dinge, die mich nicht wirklich interessieren und die ich links liegen lasse, aber wenn mich etwas packt, dann richtig und auf eine Art, bei der ich mir in kurzer Zeit extrem viel Wissen aneigne und mich quasi mit nichts anderem mehr beschäftige. Ich schreibe das in einen Primavera-Text, weil sich diese Eigenschaft bei mir auf die Route auswirkt, in der ich durch das Festival stapfe. Wie oben schon geschrieben, kannst du hier natürlich jeden Tag zehn unterschiedliche, großartige Konzerte sehen und dennoch das Gefühl haben, dafür 20 andere verpasst zu haben. Man kann die Vielfalt der gesehenen Acts aber auch bewusst noch etwas weiter runterschrauben und stattdessen seine Lieblingsmusiker*innen gleich mehrmals anschauen. Oft ist das möglich, denn viele Acts spielen hier mehrere Auftritte. Ich mache das persönlich extrem gerne, da ich eben lieber einen Act richtig sehe, als drei oder vier nur ein wenig. Bei mir entsteht so das Gefühl, nochmal ganz andere Facetten zu sehen, kurz gesagt: eine größere Tiefe, ein verschärfter Blick.

Oben schrieb ich bereits über Yo La Tengo. Erst spielen sie ein Cover-Set im schönsten Club der Stadt, dann ihre eigenen Songs auf dem Festival – und gerade diese Kombination aus zwei total unterschiedlichen Sets, die sich aber doch perfekt ergänzt haben, erwächst bei mir ein Gefühl, als würde diese Erfahrung vom Kurzzeit- direkt ins Langzeitgedächtnis hinüberwandern. Etwas, das vielleicht im Strom der konstanten Sinneseindrücke und Reize schnell in Vergessenheit geraten könnte, wird durch diese Vertiefung zu etwas, bei dem ich das Gefühl habe, es wird mich noch lange begleiten.

Ein anderer Act, der eigentlich nur einmal spielen sollte, aber dann doch zweimal auftrat, war Charli XCX. Neben ihrem regulären Festivalauftritt hatte sie am gleichen Tag, mit ca. zwei Stunden Vorlauf, angekündigt, zusammen mit A.G. Cook und George Daniel noch ein DJ-Set direkt am Strand in Barcelonetta zu spielen. Wir hatten das Glück, in der Nähe zu wohnen und sind gleich los. Während ich auf ihren normalen Auftritt zwar Lust hatte, aber nicht übermäßig gehypt war, nachdem ich sie bereits einige Male in den letzten Jahren gesehen habe und ihr Set doch, neben den Songs vom aktuellen Album, tendenziell aus den gleichen Hits (ich schreibe das hier etwas gelangweilt, aber wir wissen alle, dass die meisten zeitgenössischen Popmusiker*innen ihre Seele verpfänden würden, um auch nur einen dieser Hits zu schreiben – und Charli hat 20 davon) besteht. Ihr PARTYGIRL-Boiler Room-Set aus diesem Jahr aber war eine ganz andere Nummer. Cool, unique, nach vorne gehend, voll von Deepcuts. Dementsprechend war ich voller Vorfreude, genau diese Art von Set nochmal zu sehen. Und genau so war es dann auch. Das Set vor vielleicht 250 spontan zum Strand gepilgerten, halbverkaterten Menschen mit dem Mittelmeer im Augenwinkel hat mich rundum glücklich gemacht, während mich ihr eigentlicher Auftritt auf der großen Festivalbühne eher achselzuckend zurückließ. Es war nicht schlecht, aber trotzdem ziemlich identisch mit dem, was sie 2022 an gleicher Stelle performt hat. Vermutlich wird sie auch 2034 in ihrer IDM-Dubstep-Phase ihr Set mit „I Love It“ abschließen. Naja. Dennoch bin ich froh, beide Auftritte gesehen zu haben, um zu merken, dass mein Verhältnis zu einer meiner Lieblingspopkünstlerinnen mittlerweile einfach ein anderes ist als noch vor zwei Jahren.

Sogar dreimal habe ich bei dieser Ausgabe Militarie Gun gesehen – auch hier mit jeweils komplett unterschiedlichen Konzerten. Die Post-Hardcore-Band aus Kalifornien mit personellen Überschneidungen zu ziemlich vielen anderen Acts aus dem Genre, die ich sehr mag, wie unter anderem Drug Church, hat mit Life Under the Gun vielleicht mein liebstes Gitarrenalbum des letzten Jahres veröffentlicht, wobei sich die Band dabei mit ihrer Affinität zu Indie-Rock-Riffs und oft sogar Power-Pop-Hooks schon recht weit vom reinen Hardcore-Sound wegentwickelt hat. Ich liebe es komplett und habe mich sehr auf die Festival-Auftritte gefreut. Zunächst hat die Band ihr reguläres Frühabend-Set auf einer für das Festival zwar kleinen, aber doch jeden „echten“ Hardcore-Konzertgänger verzweifeln lassenden Bühne gespielt und es war: Fantastisch. Es war eines dieser frühen Sets auf dem Festival, bei dem man merkt, dass viele eigentlich nur so vorbeischauen, um dann doch komplett eingenommen zu werden. Der Moshpit war am Anfang noch klein, zum Ende hin, spätestens zum „Song 2“-Cover, war dann der komplette vordere Bereich dabei. Es war so energiegeladen wie umsichtig und schön.

Später am Abend, gegen 0:30 Uhr, wurde dann angekündigt, dass die Band noch ein weiteres Set auf einer der vielen kleinen Showcase-Bühnen des Festivals spielen würde. Also alles stehen und liegen gelassen und los ging es. Diesmal vor vielleicht 200 Leuten auf einer ebenerdigen 360°-Bühne (was heißt: ein Teppich, auf dem die Band steht) bei ungefähr 40° Raumtemperatur. Und holy shit, war das gut. Das Set ging genregerechte 25 Minuten inklusive ungeplanter Zugabe, aber danach konnte auch niemand mehr. Das Triple komplett machte dann noch eine Club-Show am Sonntag, also sozusagen die Closing-Party des Festivals zu einem Zeitpunkt, wenn der Körper nach sieben Tagen Festivaleskapaden langsam aufzugeben scheint. Trotzdem nochmal alles gegeben – und alles zurückbekommen.

Yo La Tengo, Charli XCX, Militarie Gun – bei jedem dieser Acts habe ich das Gefühl, sie wirklich gesehen zu haben. Gefühlt zu haben, um was es bei ihren Konzerten geht, anstatt nur dabei gewesen zu sein.

Militarie Guns spontan angekündigte 360°-Floor Show

6. Das „eine große Pop-Konzert“ ist nicht mehr meins

Der Auftritt, der im Vorfeld des Festivals den meisten Buzz generiert hat, war sicher der von Lana Del Rey. Wochenlang ploppten Tag für Tag Posts im Primavera-Subreddit auf, in denen Lana-Fans, so wie es in den merkwürdigen parasozialen Beziehungen, die junge Menschen mit ihnen eigentlich fremden Popstars führen, üblich ist, diskutiert haben, wann man denn am frühen Morgen da sein müsste, um am Ende auf jeden Fall einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern, wie man das mit dem Toilettengang regeln könnte, ohne seinen Platz aufzugeben, wo Lana wohl nächtigt, all das eben.

Ich möchte hier weder viel über Lana Del Reys Musik schreiben (die ich sehr mag) noch über ihre Performance an sich (sie war eine halbe Stunde zu spät und hat ein okayes Konzert mit einer nicht idealen Setlist gespielt, das meiner Freundin aber die Welt bedeutet hat, womit es für mich also irgendwo doch sehr schön war), sondern eher über diese Art von Auftritt schreiben: Dieses eine große Headliner-Konzert, das wie ein leuchtender Stern im Zentrum eines Festivaltages steht, um den der ganze Rest zu kreisen scheint. Bis 2016 zum ersten Mal Radiohead gebucht wurden, war das Primavera eigentlich nie ein Festival, bei dem es diesen einen aus dem Rest des Line-Ups herausragenden „Big Act“ gab. Damit fing es an. Das ganze Festival war voll mit Briten, die sich, wie sich herausstellte, nur am Rande für den Rest des Billings interessierten. Radiohead spielten am Freitag um 22 Uhr und schon am späten Nachmittag war die Bühne voll. Irgendwann spielten Beirut auf der Bühne gegenüber und um mich herum standen haufenweise desinteressiert quatschende Menschen, teilweise mit dem Rücken zur Bühne. Es war stressig und das Radiohead-Konzert an sich, schlechter Sound und ein Platz gefühlt einen Kilometer von der Bühne entfernt sei Dank, nur okay.

Lange habe ich diese Art von Auftritt danach umschifft, es lohnt sich einfach nicht. Im letzten Jahr spielte dann Rosalía ihren großen Homecoming-Gig in ihrer Heimat und ich wollte dabei sein, weil Motomami… es ist Motomami, was soll ich sagen. Und es war besser als bei Radiohead. Halb Barcelona hatte sich schon Stunden zuvor an der Hauptbühne versammelt, um ihre Heimatstadtikone aus gebührender Nähe zu sehen, und Rosalía selbst war sichtlich gerührt. Die Musik steht ohnehin für sich. Dennoch war es wirklich absolut fucking voll, ein einziges Gedränge und Geschiebe, irgendwo kurz vor der Panikattacke.

Und nun also Lana Del Rey. Teilweise von der Atmosphäre unter dem Publikum mehr Gottesdienst als Konzert. So musikalisch erhaben das in Teilen auch sein mag und so schön es auch ist, die Tränen in den Augen der sichtlich gerührten Anhänger*innen (das richtige Wort) zu sehen, befremdet es mich doch, wenn da Menschen bar jeder Ironie mit angezündeten Kerzen im Publikum stehen, auf denen das Konterfei ihres Idols, stilisiert als heilige Maria, zu sehen ist. It just doesn’t feel right. Währenddessen kollabieren um einen herum massenhaft junge Mädchen, weil sie seit zehn Stunden nichts mehr getrunken haben, um ihren erkämpften Platz nicht aufgeben zu müssen.

Alles schrecklich amüsant, aber in Zukunft lieber ohne mich.

7. Schaut euch die token“ Metal-Band an

Wohin man stattdessen lieber gehen sollte: Diesem einen Konzert irgendeiner – augenzwinkernd gesagt – „token“ Metalband, die um 4:30 Uhr auf der kleinsten Bühne des Festivals spielt. Es ist schon ein wenig ein Running Gag, aber seitdem ich aufs Primavera fahre, gibt es diese Konzerte wirklich in jedem Jahr. 2015 Pallbearer und Electric Wizard, 2016 Venom, 2017 Slayer…und so weiter und so fort. Und es ist immer großartig. Nicht nur wegen der Musik, sondern auch, weil es eine ziemlich einmalige Crowd für solche Acts ist. Da stehen die gleichen Leute in Leder-Speedos und mit Glitzergesicht, die sich eine Stunde später bei A.G. Cook die Füße wund tanzen werden, plötzlich bei Wiegedood, dem feinsten Black Metal, den es in Belgien gerade zu finden gibt – und lieben es komplett. Genau wie ich. So sehr ich gelegentliche Metal-Shows genießen kann, wäre ich, genau wie die meisten anderen Primavera-Gänger*innen, auf einem reinen Genre-Festival doch fehl am Platz. Gerade die Vielfalt liebe ich, es ist für mich vielleicht der Aspekt, der das Primavera eben zum besten Festival der Welt macht. Und deshalb ist genau dieser eingesprenkelte Act immer genau das, was ich zu genau dem Zeitpunkt brauche.

Der größte Act „härterer“ Musik in diesem Jahr waren eindeutig Deftones, die in den letzten Jahren durch das Nu-Metal-Revival (auch wenn das eigentlich nicht die richtige Zuordnung ist, aber das sei an dieser Stelle ignoriert) und vor allem auch die riesige neue Popularität von Shoegaze, als dessen spirituelle Verwandte Deftones, die natürlich keine Shoegaze-Band sind, gelten, nochmal einen großen Push erhalten haben. Bisher hatte ich selbst allerdings nie so wirklich den Zugang finden können, obwohl auf dem Papier eigentlich immer alles stimmte. Irgendwas klickte einfach nicht. Trotzdem habe ich mich am Donnerstagabend gegen Pulp und für Deftones entschieden und, Jesus, Gott sei Dank habe ich das getan. Denn es war großartig. Chino Moreno hat – wie anscheinend immer? – alles reingeworfen, was da war, das Publikum war ein einziges wundervolles Chaos. Es war eines dieser Konzerte, nach denen man erst einmal mit einem gewaltigen Deepdive in die komplette Diskografie eintauchen möchte. Genau für solche Buchungen bin ich hier.

8. Es ist okay Lieblingsbands ziehen zu lassen

Einer der Headliner in diesem (wie in vielen anderen) Jahr war The National. Abgesehen von einigen Songs zwischendurch hier und dort, habe ich die Band zuletzt 2013 auf dem Hurricane gesehen, direkt vor Portishead und Sigur Rós. Ich mochte die Band schon damals sehr, aber dennoch war es erst der Auftritt, der mich so richtig zum Fan gemacht hat, so gut war das alles. Da stand ich also mit 18 Jahren in der Nachmittagssonne von Scheeßel, einen Tetrapack Rotwein in der Hand, und habe aus voller Kehle die für mich damals schönsten Lieder der Welt mitgesungen – „Big wet bottle in my fist / Big wet rose in my teeth / I’m a perfect piece of ass“. Diese Phase ging dann recht schnell zu Ende, was nicht zuletzt daran lag, dass die Band damals, kurz vor dem Hurricane-Auftritt, mit Trouble Will Find Me das letzte Mal etwas von künstlerischer Bedeutung veröffentlicht hat und seitdem in einem kreativen Dead End verweilt, aus dem sie – so sieht es aus – wohl auch nicht mehr herauskommen werden. Bei all den vielen Gelegenheiten, The National noch einmal zu sehen, habe ich mich seitdem immer für das Gegenteil entschieden und es auch nie bereut.

Als dann in diesem Jahr angekündigt wurde, dass die Band neben ihrem Headliner-Auftritt noch ein weiteres Konzert im Razzmatazz-Club in Barcelona spielen würde, habe ich mich dann doch wieder etwas von der Euphorie anstecken lassen, die als Reaktion auf diese Nachricht ausgebrochen ist. The National mit einem zweistündigen Set vor nur 1500 Leuten im Club, so etwas gab es laut Fans, die sich besser auskennen als ich, seit 10 Jahren nicht mehr. Was konnte man wohl erwarten? Viele Deepcuts? Vielleicht sogar Boxer in Gänze? Irgendwas Besonderes, oder? Ich persönlich habe gehofft, mal „All the Wine“ mit leichtem Schwips hören zu dürfen, dem besten Song für diesen Zustand. Es wurde dann aber ein ganz normales Set. Ein oder zwei kleine, nicht so häufig gespielte Songs, bisschen aktuelles Album, „Mr. November“, „Fake Empire“, „Vanderlyle Cry…..“ zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz. Was ich sagen möchte: das Übliche. Und es war neutral betrachtet sicher auch nicht schlecht. Sie haben über zwei Stunden gespielt, am Ende sogar noch überzogen, wirkten halbwegs motiviert (keine Selbstverständlichkeit), und das dankbare Publikum war sowieso involviert. Während des Konzerts hatte ich eine gute Zeit, doch was am Ende übrig blieb war: nichts.

See U next year. <3

Alle Acts, die ich gesehen habe, ich chronologischer Reihenfolge:

The Messthetics & James Brandon Lewis (Club Show), Yo La Tengo (Cover only-Set, Club), Armand Hammer (Club Show), The National (Club Show), Phoenix, William Basinski performing Disintegration Loops, Mannequin Pussy, Amy & The Sniffers, Vampire Weekend, Deftones, The Armed, Wiegedood, A.G. Cook, Scowl, Yo La Tengo, Lana Del Rey, Charli XCX PARTYGIRL-DJ Set (am Strand), Nala Sinephro, Water From Your Eyes, Militarie Gun, PJ Harvey, Romy, Atarashii Gakko!, Militarie Gun (Floor Show), Charli XCX, Silica Gel (Club Show), Militarie Gun (Club Show), American Football (Club Show)

Wasting the Weekends #1: Mdou Moctar, Hovvdy, Cola live

Vor einiger Zeit, genauer gesagt am Jahresende 2022, einem Zeitpunkt in meinem Leben, an dem es mir wirklich nicht gut ging, schrieb ich bereits über die Frage, wie man auch als Erwachsener auf die 30 zugehender Mensch – also weniger Freizeit durch Arbeit, weniger ausgehbereite, neugierige Freund*innen und so weiter – in dieser sich unaufhaltsam weiter beschleunigenden Gesellschaft sein von Leidenschaft und Neugier geprägtes Verhältnis zur Gegenwartskultur behalten könnte. Das mag nach aus unterschiedlichen Gründen für den ein oder anderen auch weiterhin nach einem albernen Luxusproblem klingen, aber mir ist es ernst damit. Kultur und Kunst sind für viele sicher nicht mehr als ein kleiner Zwischenraumfüller inmitten eines Alltags aus Arbeit, Gym, Urlaubsplanung (weil Alltag Mist ist) und vielleicht etwas Familie. Ein paar Stunden Netflix nach der Arbeit, also Ablenkung, also Betäubung. Für mich war und ist das alles – Popmusik, Serien, Filme, Literatur, Blogs, Newsletter, Zines, Konzerte und so weiter – aber ein zentraler Zugang zu der Zeit, in der ich lebe, eine emotionale Verbindung zu einer Gesellschaft, aus der ich mich mehr und mehr zurückziehe, und nicht zuletzt ein wohlbenötigter Ausbruch aus diesem an seinem eigenen Einsturz arbeitenden Gegenwartsgefängnis irgendwo zwischen chronischer Erschöpfung und chronischer Langeweile.

Insbesondere mein Verhältnis zur Popmusik – sicher trotz des Kinos, trotz der Science Fiction und all den fantastischen Serien meine primäre Leidenschaft und das Territorium auf der Popkulturlandkarte, in dem ich mich am besten auskenne – hatte sich in den 20er-Jahren stark verändert und in eine Richtung entwickelt, die auf ein paar Eckpunkte herunterzubrechen sind: weniger bewusstes Musikhören, weniger Konzerte, mehr algorithmisiertes Streaming, weniger kuratiertes Empfehlungshören, mehr Playlists, weniger Alben, mehr Musik, die man hören sollte, weniger Musik, die ich hören wollte. Über die vielen Gründe für diese Veränderung könnte man lange nachdenken und sicher einiges daraus ziehen. Es würde darum gehen, wie Corona, die Art, in der man neuer Musik begegnet, nachhaltig verändert hat, um die Wege, in denen die Plattformarchitektur von Streaminganbietern nicht nur die Musiklandschaft sondern auch die Hörgewohnheiten verändert hat, um TikTok und am Ende sicher auch um den allgemeinen Verfall meiner eigenen Aufmerksamkeitsspannte. Aber diese Texte wurden bereits geschrieben – von anderen und auch von mir selbst. An dieser Stelle möchte ich auf etwas anderes hinaus: Gegengifte.

Der Versuch einer Rückeroberung meiner wichtigsten Leidenschaft soll einer werden, der auf das altbackenste aller Mittel setzt: Schreiben. An diesem Ort, über das, was mich musikalisch zurzeit beschäftigt, ob neue oder wiederentdeckte Alben, Musikgossip, der mich interessiert, kurze Konzertberichte oder gelesene Musikbücher. Hauptsache ich bin emotional und kognitiv involviert. Am wichtigsten aber: Regelmäßigkeit. Ein Musiktagebuch möchte ich das nicht nennen, da ich beim Schreiben stets versuche, die Dinge, die mich beschäftigen – Musik, Filme, Pop, Soziologie – so aufzubereiten, dass nicht nur meine eigenen Befindlichkeiten im Mittelpunkt stehen, sondern auch die Kunst an sich. Natürlich liegt das leicht quer zu dem sehr stark auf meine Motivationen zurückgreifenden Einstieg in diesen Text. Außerdem kann man Befindlichkeit und Kunstwerk sowieso nicht klar trennen, wenn es um so etwas Subjektives geht wie die emotionale, eruptive Wirkung eines großartigen Popsongs. Aber am Ende soll es eben um diesen Song gehen und nicht um mich. Ebenso wenig wie ein Tagebuch möchte ich dieses Format aber Newsletter nennen. Obwohl Newsletter wie Chasing Fridays von Eli Enis, einem meiner liebsten Musikjournalisten, meine Hauptinspirationsquelle sind, möchte ich hier nicht von einem sprechen. Das liegt einfach daran, dass das Wort Newsletter, auch wenn es natürlich ein Meme ist, dass 99% von ihnen sowieso ungelesen in die Datenmüllwolke des eigenen Maileingangs inhaliert werden, für mich trotzdem eine starke Verbindlichkeit evoziert. Und ich weiß, dass ich diese Verbindlichkeit zwischen Arbeitshektik und Erschöpfungsdepression sowieso nicht einhalten könnte oder sie als lästige Arbeit empfinden würde, also dem Gegenteil von dem, um das es mir hier gehen soll: Freude. Passion. Schönheit.

Es soll einfach ein unregelmäßig regelmäßiger Versuch sein, meine Gedanken zu meiner größten Leidenschaft so zu strukturieren, dass sie auch für andere interessant sein könnten. Ein Versuch, weniger nur Halbwahrgenommenes zu konsumieren, um es doch gleich wieder zu vergessen, und mehr von dem zu behalten, das mich wirklich berührt. Und ein solcher Versuch benötigt einen Namen. Also: Willkommen zum ersten Versuch von Wasting the Weekends, benannt nach dem Closer des vor kurzem erschienenen neuen Albums Life on the Lawn der aus Philadelphia stammenden und auch so klingenden Slacker-Rock-Band A Country Western. Es ist ein wundervolles kleines Album, und mir erschien es passend für dieses Projekt, einen Namen zu wählen, der etwas mit dem zu tun hat, das mich in diesem Moment musikalisch beschäftigt und erfüllt.

Mdou Moctar – Funeral for Justice

Für sich selbst als progressiv (im künstlerischen Sinne) wähnende Musikhörer*innen gehört es schon lange zum guten Ton, mit unterschiedlichsten Begründungsstrategien zu behaupten, dass Gitarrenmusik im Grunde „tot“ sei. Oder vielmehr: untot. Denn es gibt sie ja noch. Es geht mehr darum, darauf hinzuweisen, dass in der (Indie-)Rockmusik seit Jahrzehnten schon Innovationsstau herrscht und dass das, was heute mit Gitarren in westlichen Männerhänden passiert, meistens so klingt, als wäre man wahlweise wieder zurück in die 2000er-Jahre, die 90er oder gleich ganz zurück zu Velvet Underground gereist. Selbst wenn man in westlichen Soundsphären verhaftet bleibt, muss man bei Alben wie dem aktuell in der Musikpresse gehypten Underground-Hypnagogic-Pop-Meisterwerk Diamond Jubilee von Cindy Lee nur etwas genauer hinhören, um diesen Vorwurf zu entkräften. Völlig albern wird es aber, wenn man den euro-/amizentrischen Hörhorizont erst einmal verlässt. Zu behaupten, dass in der Popmusik nichts Neues passiert, zeigt meist nur, dass man als Spotify-Algorithmus gesteuerter Musikhörer entweder nicht tief genug gegraben hat oder – wie im Falle des neuen Mdou Moctar-Albums – nicht bereit ist, auch mal zur geografischen Seite zu gucken.

Mahamadou Souleymane, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Mdou Moctar, ist ein nigrischer Musiker und vielleicht der coolste und innovativste Gitarrist, den ich in den letzten Jahren kennengelernt habe. Das fünfte Album nach ihm benannten Tuareg Blues-Projekts, Afrique Victime, was so etwas wie der internationale Durchbruch und wurde u.a. bei Pitchfork mit dem Best New Music-Prädikat versehen. Damals ist das alles aber – Corona, Depressed-sein, das Übliche – an mir vorbeigerauscht, und so ist es der in der letzten Woche erschienene Nachfolger Funeral for Justice, der mich dem Projekt etwas später als der Rest hat verfallen lassen. Schon der Titeltrack-Opener macht klar, wohin die Reise geht: Es dauert exakt zehn Sekunden, bis Mdou Moctar seine Gitarre an einen Klimax in Form eines unwiderstehlichen, innovativen Riffs geführt hat, den die meisten anderen Rockbands auf Albumlänge vielleicht ein-, zweimal, meist aber gar nicht erreichen. Der schlagende Puls wird auf Funeral for Justice in den ersten Takten auf Anschlag gedreht und verweilt dort fast über die komplette Distanz, bevor er erst mit dem letzten Track „Modern Slaves“ ein wenig zur Ruhe kommen darf. Trotz der begnadeten Gitarrenarbeit ordnet sich Mdou Moctar ohne zu murren in die Rhythmusmaschine seiner Begleitmusiker ein. Der Groove und der Rhythmus sind wichtiger als das Solo und die Melodie, ohne zu sagen, dass letztere sich hier nicht haufenweise durch die Gehörgänge und direkt in die Gliedmaßen fräsen. Denn genau das tun sie.

Funeral for Justice ist ein explizit politisches Album, dessen progressive Energie aber nicht aus den gesungenen Texten stammt, wie es bei viel zu viel westlicher „Protestmusik“ passiert, die sich wahlweise eher in lahmen Sonntagsdemonstrationsgesängen oder Soziologieseminarexkursen verrennt. Die politische Energie ist hier die Energie der Musik selbst, des Sounds, des Kollektivs. Obwohl Mdou Moctar auf Touareg singt und die meisten westlichen Hörer*innen somit nicht wortwörtlich verstehen können, was da gesagt wird, wird man dennoch verstehen. Fühlen. Kunst handelt nicht davon, wie die Welt ist, sondern vermittelt Haltungen zu ihr. Und die Haltung, die die Gitarrensounds von Mdou Moctar für mich vermittelt, ist eine, die mich daran glauben lässt, dass wir diesen Menschen vernutzenden, unterdrückenden, durchsortierenden und ausschließenden Drecksladen, den wir Gegenwart nennen, vielleicht doch noch abfackeln und durch etwas Schöneres ersetzen können.

Hovvdy – Hovvdy

Wenn Mdou Moctar sowas wie mein musikalischer Upper in der letzten Woche war, liefern Hovvdy den ebenso dringend benötigten Downersound, um zwischendurch wieder runterzukommen und durchatmen zu können. Wobei Downer hier eindeutig nicht im Sinne des gefühlsmäßigen Down-Seins zu verstehen ist, sondern als down sein im Drogenjargon: Songs, die Komfort bieten und sich wie eine warme Decke um einen legen, die eine beruhigende Wirkung erzeugen und sich anfühlen, als würden sie den kontinuierlich überfordernden Nachrichtenstrom zwischen dem Gehirn und dem zentralen Nervensystem verlangsamen. „We’ll do a whole lot of talking/Don’t a lot have to happen,“ wird auf dem nur von langsam dahinschwelgenden Akustikgitarren untermalten Song „Angel“ vom aktuellen Album gesungen – und man fühlt es.

Die Musik des aus Charlie Martin und Will Taylor bestehenden Bedroom-Pop-Duos aus Austin, Texas, begleitet mich mittlerweile schon seit vielen Jahren. Während sich die musikalische Karriere der beiden für die Mehrheit der Kritikerstimmen in einer kontinuierlichen Aufwärtsbewegung befindet, also jedes Album besser war als der Vorgänger, sind es die beiden ersten Alben der Band, Taster und Cranberry, zu denen ich am häufigsten zurückkehre. Beide zeichnen sich durch einen Duster-inspirierten, Lo-Fi-produzierten und irgendwo zwischen Slowcore, Slacker Rock und Bedroom Pop angesiedelten Sound aus. Anders als die kühlen, weltraumhaften Klanglandschaften von Duster, klangen Hovvdy, bei aller Melancholie, die ihre Songs durchzieht, aber schon immer warm und tröstlich. Es sind kleine Alben, die wirken, als würden zwei gute Freunde einfach bei sich im Zimmer rumhängen und zusammen entspannt vor sich hin musizieren, weil es eben das ist, was man mit Freunden an ziellos dahinwabernden Nachmittagen gemeinsam tut. Die Nachfolgewerke waren dann ebenso klein und sympathisch, klangen für mich aber immer zu viel nach professionellem Studio, wodurch sie einen Teil ihrer sympathischen Klangessenz – das Grobkörnige, ins Nichts verlaufende, dahin Improvisierte – einbüßten.

Das vor einigen Wochen erschienene mittlerweile fünfte Album der Band, das praktischerweise einfach Hovvdy heißt, bildet da keine Ausnahme und versöhnt mich auf eine eigentümliche Weise dennoch wieder mit ihrem Sound. Obwohl auch Hovvdy ausproduziert und professionell klingt, findet sich dort doch irgendwo wieder dieses wundervolle Gefühl von Zwanglosigkeit, Freundschaft und Komfort. Das Album ist nur knapp kürzer als eine Stunde und besteht aus insgesamt 19 Songs. Was aber in der Theorie nach großen Ambitionen für ein Indie-Album klingt, fühlt sich praktisch doch kaum innovativer oder größer gedacht an als das weniger als halb so lange Debüt der Band – das meine ich als Kompliment. Auch wenn hier und da mal das ein oder andere Klangexperiment durchschimmert – hier eine Drummaschine, dort etwas Auto-Tune, die ein oder andere Annährung an Popgesangsharmonien – ist das eine völlig kleine, umarmende Sammlung an Songs, die sich in der Ruhe deines Schlafzimmers besser ausbreiten können als in den Artikeln avantgardistischer Musikblogs. Man könnte wohl ein Trinkspiel machen, würde man jedes Mal trinken, wenn jemand hier das Wort „Friend“ oder „Light“ oder den Namen eines Familienmitglieds singt.

Das ist natürlich nur halb ernst gemeint, trifft für mich aber doch einen wahren Kern. Hovvdy, das ist für mich auch der Sound, um sich Zeit zu nehmen und den warmen Glanz einer über Raum und Zeit gepflegten Freundschaft oder Beziehung wirklich zu genießen. Es gibt ja oft noch diese ewiggestrige Sicht, dass Musik umso mehr künstlerische Tiefe besitzt, desto anstrengender sie zu hören ist und umso düsterer und depressiver sie in ihren Texten daher kommt. Ich hingegen glaube, dass es nur eine Handvoll Bands gibt, die einen so entspannt gluckernden, wohlklingenden und dabei doch super interessanten Song schreiben könnten wie „Bad News„.

Cola live

Nachdem in Hannover für einige Zeit ein wenig Flaute herrschte, was für mich interessante Konzerte angeht, und ich stets den Weg nach Hamburg auf mich nehmen musste, um das zu sehen, was gerade hot und interessant ist, scheint dieses Winterloch nun vorbei zu sein. Am Mittwoch war ich im Café Glocksee, um Cola zu sehen, und die Vorzeichen waren denkbar gut. Es war der Mittwochabend vor einem Feiertag, die Sonne schien, und es war das erste Konzert hier in Hannover und in der Glocksee für meine Freundin, mit der ich heute unterwegs war. Wir haben wie paar Gehminuten also zeitig auf uns genommen, um noch ein wenig im Innenhof der Glocksee zu sitzen und entspannt etwas zu trinken, bevor es losgehen sollte. Allgemein ist die Glocksee vermutlich mein liebster Konzertclub in Deutschland – und ich habe schon einige gesehen. Man ist direkt am Flussufer, es gibt einen wunderschönen Graffiti-besprenkelten Innenhof mit Bänken, Bäumen und einer Halfpipe, alles in allem also ein Ort, an dem ich auch gerne rumhänge, wenn gerade kein Konzert stattfindet. Heute wurde vor der Show wohl auch der vegane Grill angeschmissen. Wunderbar, auch wenn ich selbst gerade keinen Bedarf hatte. Der Club selbst ist ebenfalls fantastisch. Die Bühne ist halbhoch, es gibt keine Absperrung, und man kann im Grunde von überall gut sehen.

Abgesehen davon gehe ich aber vor allem gerne in die Glocksee, weil das Publikum so gut wie immer absolut angenehm ist. Zwar sind die Leute nicht so abgeklärt kennerhaft wie in Hamburg oder Berlin, aber dafür durch und durch begeisterungsfähig. Es ist eben immer noch Hannover, und da ist es immer etwas Besonderes, wenn eine Indie-Rock-Band aus Kanada zu Besuch kommt, und man freut sich merklich und ist dankbar. Bei vielen Konzerten in der Glocksee kennen Teile des Publikums vorher die Acts nicht wirklich, aber nach spätestens zwei, drei Songs sind alle euphorisiert und tanzen vor der Bühne. Nirgendwo habe ich so viele tatsächlich ungeplante Zugaben gesehen wie hier, einfach weil die Leute keine Ruhe gegeben haben. Man erlebt also meistens echt gute Abende dort, egal was spielt. Selbst bei Cola, einer Band, die nach minutenlangen Anforderungen seitens des Publikums verlauten ließ, dass man grundsätzlich niemals Zugaben spiele, sei man nach Auskunft von Sänger und Gitarrist Tim Darcy „heute wirklich knapp davor gewesen“.

Cola kommen aus Quebec, Kanada, und spielen im Wesentlichen post-punk-beeinflussten Indie-Rock, also grundsätzlich Musik, die in den letzten Jahren wieder stark an Popularität gewonnen hat. Idles verkaufen Mehrzweckhallen aus, Fontaines D.C. spielen auf den Hauptbühnen von Major-Festivals, und Ants From Up There von Black Country, New Road, ist eines der am besten bewerteten Alben auf der Musikschwarmintelligenzwebsite RateYourMusic – und zwar aller Zeiten. Gemeinsam haben die genannten Bands und auch die meisten artverwandten Acts der Gegenwart, dass ich ihnen meist nur wenig abgewinnen kann. Es gibt zwar hier und da vereinzelt mal Songs, die ich mag, aber meistens löst das alles nur Achselzucken aus. Mein letzter Versuch, mich mit dieser Szene zu versöhnen, war 2022 beim Primavera Sound, als ich mir die erwähnten und gerade ziemlich gehypten Fontaines D.C. angesehen habe. Um mich herum baute sich im Publikum die unangenehme Atmosphäre betrunkener Britishness auf, die Musik war uninteressant, und der Sänger inszenierte sich als peinlich-machohafte Liam Gallagher-Imitation auf der Bühne. Die Versöhnung fiel aus. Dass ich mich nun trotz dieser generellen Antipathie sehr auf den heutigen Abend gefreut hatte, lag, das muss ich zugeben, noch mehr an Ought, der Band, deren kreatives Zentrum Sänger und Gitarrist Tim Darcy und Bassist Ben Stidworthy waren, als an Cola selbst.

Ought waren für mich eine der quintessenziellen und besten Gitarrenbands der 2010er-Jahre. Auch wenn da immer die Schuldmünze auf The Fall ausgestellt werden musste, besonders beim stark von Mark E. Smith inspirierten lakonisch-monotonen Gesang Darcys, klangen Ought doch ganz und gar einzigartig. Es war diese Mischung aus ausschweifenden, mit Gitarren- und Synth-Klängen gesprenkelten, pluckernden Songs, die oft die 5-Minuten-Marke überschritten, gepaart mit Darcys lakonisch vorgetragenen, wie aus dem Ärmel geschüttelt wirkenden Gefühlsanalysen einer Gegenwart, in der der Mensch allzeitverbunden mit allem und jedem ist und doch gleichzeitig immer einsamer, die Ought zu einer meiner Lieblingsbands machen. Ich habe sie nur einmal live sehen können, 2015 beim Dockville Festival in Hamburg, doch an die Performance von „Beautiful Blue Sky“, ihrem besten Song und vermutlich einem der zehn besten Songs der Dekade, denke ich noch öfters. 2021 haben Ought ihre Auflösung bekannt gegeben, und noch am gleichen Tag riefen Darcy und Stidworthy Cola aus und veröffentlichten „Blank Curtain“, die Lead-Single zu Deep in View, dem Debütalbum, das kurze Zeit später veröffentlicht werden sollte.

Cola klingen klar wie die spirituellen Nachfolger von Ought, unterscheiden sich aber doch merklich. Die Songs sind kürzer und weniger mäandernd, es gibt nun klassische Refrains, und Tim Darcys Gesang ist deutlich kompakter und weniger ausfransend als es noch bei Songs wie „Habit“ der Fall war. Ich mag Deep in View sehr gerne, die emotionale Höhe von Oughts More Than Any Other Day oder Sun Coming Down erreicht es aber nicht. Die Single „Bitter Melon“ vom im Juni erscheinenden Album hingegen hat mich auf Anhieb direkt gecatcht. Über sechs Minuten lang schleichen sich Darcy Gitarre und Stimme gemein-sam durch das subtil vor sich hin tuckernde Rhythmusgerüst des Songs. Das klingt nicht direkt wie Ought, aber auf andere Art ganz fantastisch. „Bitter Melon“ war auch live für mich das Highlight heute.

Die Glocksee war gut gefüllt heute, aber nicht so voll, dass man nicht tanzen konnte. Und es wurde getanzt. Anders als die Songs von Ought bieten sich die kompakteren, teilweise sogar mit Hooks versehenen Songs von Cola auch für Bewegung an. Spätestens als nach 20 Minuten der Refrain von „At Pace“ ertönte, am ehesten das, was man einen Hit nennen könnte bei einer Band, die eigentlich keine Hits schreibt, war der Raum gewonnen. Die Hälfte des Sets bestand aus Songs vom kommenden Album – und das, was ich gehört habe, versetzt mich in Vorfreude. Tim Darcys Bühnenpräsenz, die schüchtern und absolut einnehmend zugleich wirkt, hypnotisierte die Menschen um mich herum, es gab kaum Ansagen, der Drummer war in Trance, ein Song nach dem nächsten wurde gespielt. Nach ungefähr einer Stunde war Schluss. Es war fantastisch.

Civil War, American War, Image War

Gestern konnte ich endlich Civil War, den neuen Film von Alex Garland, im Kino sehen. Ein Abend, auf den ich schon seit Wochen, vielleicht Monaten, mit großer Spannung hingefiebert hatte. Zum einen lag das an Garland selbst. Egal, ob mit Mitte zwanzig als Romanautor von The Beach, als Drehbuchautor von 28 Days Later und dem noch immer sträflich vernachlässigten Sunshine in den 2000er-Jahren oder – sicher seine bekannteste Rolle – als Regisseur der spannendsten Science-Fiction-Filme der letzten knapp zehn Jahre, Garland ist für mich einer der faszinierendsten Künstler dieses Jahrtausends. Seinem letztes Werk, der in seiner Inszenierung künstlerisch-verkopfte, aber doch eigentlich recht plump-feministische Horrorfilm Men, konnte ich zwar erstmals nicht allzu viel abgewinnen, doch alles, was davor kam, liebe ich nach wie vor. Die schimmrig-kryptische Bio-Science-Fiction von Annihilation, Ex Machina, der gerade neun Jahre alt geworden ist, dessen Fragen nach Menschlichkeit aber mit jedem technischen Durchbruch interessanter werden, und vor allem sein stilistisches, konzeptionelles und philosophisches Magnum Opus, die noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommende Mini-Serie DEVS.

Der andere Grund für meine – ich würde (nach Men) nicht sagen unglaublich hohe, aber sehr interessierte Erwartungshaltung – lag in der Art von Diskurs, den Civil War vor allem in der anglo-amerikanischen Filmsphäre in den letzten Wochen produziert hat. Dort geht es vor allem um die These (die in der Regel als Vorwurf gemeint ist), Garlands neuer Film sei zu apolitisch. Er interessiere sich nicht wirklich für die politische, historische und ethische Dimension seines Konflikts. Das stimmt auch: Im Grunde weiß man am Ende kaum, wer hier aus welchen Gründen gegen wen in den Bürgerkrieg zieht. Es ist jedoch keine Schwäche, sondern die größte Stärke des Films. Was Menschen, die viel auf Twitter rumhängen, sich aber kaum für Kunst interessieren, erwartet hatten, war wohl ungefähr so etwas: Wegen irgendwas mit Trump folgte irgendwas mit Faschismus, worauf irgendwas mit Bürgerkrieg folgte. Kurz gesagt, erhoffte man sich also einen Film, der irgendwie dystopisch wäre, aber nun auch wieder nicht wirklich Science Fiction, sondern eher unsere Gegenwart, aber eben noch um ein paar Lautstärkestufen nach oben gedreht. Der also vor irgendwas mahnt und warnt – am besten vor irgendetwas Rechtem oder Trump oder sonst was. Oder halt irgendeine Botschaft transportiert, der jeder, der noch nicht vollends irre geworden und komplett dem neuen militaristischen Gegenwartshype verfallen ist, bedenkenlos zustimmen kann. Zum Beispiel so etwas wie: Krieg. Der ist wirklich grausam und schlecht. Oder? Hauptsache etwas, mit dem man selbst natürlich absolut gar nichts zu tun hat, sodass man keinesfalls anfangen muss, sich nun auch noch kritisch mit sich selbst und seiner eigenen Position zu beschäftigen. Was also eigentlich heißt: Man wollte ein Kunstwerk über das irgendjemand, der Journalismus studiert hat, schreiben kann: ein wichtiger Film.

Genau dieser Film ist Civil War nun glücklicherweise nicht geworden. Aber um fair zu bleiben, muss man auch offenlegen, dass eine derartig triste, fantasielose Erwartungshaltung nicht nur aus den Köpfen von Menschen, die Twittern für politische Praxis halten, entsprungen ist, sondern im Rahmen der Promotion des Films selbst genährt wurde. Da ist zum Beispiel Garland selbst, der in mehreren Interviews im Vorfeld des Kinostarts nicht müde wurde zu betonen, der Bürgerkrieg im Film sei „nur die Fortsetzung einer realen Situation“. Und diese Situation sei die „Polarisierung und das Fehlen begrenzender Kräfte für die Polarisierung“. Auch die verschiedenen Trailer legten im Tonfall schon von Anfang an eine ähnliche Lesart nahe, indem einer der prominesten Shots eine Szene war, in dem ein rassistischer von Jesse Plemons gespielter Milizionär die Frage nach dem „richtigen“ Amerika stellt. Diese Szene kann jedoch keineswegs sinnbildlich für die thematische Ausrichtung von Civil War stehen. Im Gegenteil, sie ist in ihrer politischen Explizitheit ein Fremdkörper in einem Film, der sich den Rest der Laufzeit über völlig anderen Fragen widmet.

Dass es nicht einfach um ein stumpfes Mahnen und Warnen vor einer sich fraglos in immer düsterere Gewänder kleidenden Zukunft geht, wird bereits in den ersten Sekunden des Films klar. Da sehen wir Nick Offermann als US-Präsident eine Rede üben und später halten, aus der wir folgende Informationen entnehmen: Die Separatisten bestehen aus Texas und Kalifornien, eine Allianz also, die gemessen an der realen politischen Situation in den USA kaum mehr „Das hier ist nur Fiktion“ schreien könnte. Die interessante Frage, die sich mir zunächst gestellt hat, war: Warum ausgerechnet diese Konstellation? Aus dem Lager der oben beschriebenen Kritikerinnen und Kritiker, die dem Film aus einer bestimmten Erwartungshaltung heraus seine angeblich unpolitische Herangehensweise vorhalten, fällt die Erklärung natürlich denkbar einfach aus: Alex Garland oder vielleicht noch mehr das hinter dem Film stehende Studio A24 seien einfach feige. „Das große Schwänzeeinziehen“ fiel das Fazit einer Letterboxd-Kritik aus. Und die beobachtete Feigheit rühre vermutlich daher, dass A24 mit ihrem bislang teuersten Projekt „keine Risiken“ eingehen wollte. Ein apolitischer Film also, der es jedem recht machen wolle – und eben auch den kaufkräftigen Rechten. Vielleicht mag da sogar etwas dran sein, für mich ist aber auch klar, dass es sich dabei um die denkbar uninteressanteste Lesart handelt. Außerdem gibt es dieses Werk bereits, und es heißt sogar fast genauso wie Garlands Film (die Titel sind absolut austauschbar).

American War, Civil War, Image War

2017, also kurz nach der Trump-Wahl und damit wohl unter der Drohkulisse dessen Wahlkampfs geschrieben, erschien der Roman American War von dem ägyptisch-kanadischen, in den USA lebenden Autoren Omar El Akkad. Das Buch war eines der meistbesprochenen Debüts des Jahres und wurde noch im gleichen Jahr in so ziemlich alle für den Buchhandel relevanten Sprachen übersetzt. Was ich sagen will: Es ist ein Buch, von dem man durchaus schon mal gehört haben könnte, weshalb es mich verwundert, dass es bisher überhaupt nicht als Referenzwerk in die aktuellen Debatten um Civil War eingebracht wird. American War ist im Grunde genau der Text, dessen Verfilmung die aktuellen kritischen Stimmen wohl gerne von Alex Garland gesehen hätten. Die Handlung des Buchs findet in einem Amerika statt, in dem im Jahr 2075 ein Bürgerkrieg ausbricht. Die republikanisch geprägten Südstaaten erklären ihre Unabhängigkeit und ziehen in den Krieg, der Anlass für den Bruch ist die ökologische Frage. Nachdem weite Landstriche der USA entweder durch Dürren unbewohnbar oder inzwischen gleich ganz unterhalb des angestiegenen Meeresspiegels liegen, wird ein allgemeines Verbot fossiler Brennstoffe erlassen, es folgen: Proteste, ein Präsident wird irgendwo in Mississippi erschossen, es folgt: Krieg.

Karte der USA in American War

American War ist ein Buch, an das ich noch oft zurückdenke, seit ich es vor einiger Zeit wegen der vagen thematischen Nähe zu Civil War gelesen habe. Das liegt aber nicht daran, dass El Akkads Debüt eine einfache Extrapolation unserer gegenwärtigen Probleme ist, sondern eher in der Umkehrung, die es durchführt. Denn eigentlich formuliert El Akkad in seinem Roman in einer grausam-realistischen Sprache eine fundamentale Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik der letzten 80 Jahre, insbesondere im Nahen Osten. Nur sind es diesmal Amerikaner, genau genommen: Republikanische Amerikaner aus dem Süden, die hier von anonymen Drohnen zerfleischt werden, in menschenunwürdigen Flüchtlingslagern zusammengepfercht dahinvegetieren und am Ende in geheimen Foltergefängnissen verenden. (Währenddessen ist das friedliche, prosperierende „Zentrum der Welt“ in American War übrigens Bouazizi, der befriedete Nahe Osten, dessen Länder sich zu einem großen Staat vereinigt haben. Und auch in Europa sieht es gut aus – schön wäre es.) Trotz dieser thematischen Tiefe bietet American War oberflächlich betrachtet das, was man sich von Civil War erhofft hätte: Kontext, einfach zu verstehende realpolitische Querverbindungen zur Gegenwart, etwas Kulturkampf, einen Schuss Mahnung, Eimer voller Warnung.

Krieg versus Kriegsbilder

Garlands Film bietet davon nichts. Die oben beschriebenen Informationshäppchen zur Fraktionalisierung – Kalifornien, Texas, irgendwas mit Florida – sind so ziemlich alles an Kontext, das wir erhalten. Was aber, wenn diese Leerstellen nicht eben ein Makel sind, sondern genau das, was Civil War interessant macht? Anders als in American War stehen nicht Soldaten, Milizionäre oder Geflüchtete im Fokus, sondern vier Kriegsjournalist*innen. Das ist nicht einfach nur ein weiterer Kniff, um sich gegen politische Kritik zu immunisieren, sondern ein fundamentaler Hinweis auf eine Lesart, die sich für mich als die bisher interessanteste für Garlands neues Werk darstellt: Civil War ist nicht ein Film über Krieg, sondern ist viel mehr an der Frage nach den Bildern vom Krieg interessiert. Denn diese Bilder, produziert von Journalist*innen, die nach ihren ganz eigenen Kriterien fotografieren und – vielleicht noch wichtiger – weglassen, prägen in weiten Teilen der westlichen Zuschauerschaft, die bisher keinen Krieg aus erster Hand erleben musste, und damit natürlich auch bei mir selbst, das Bild, das wir vom Krieg haben. Und mehr noch als die journalistische Rezeption, ist es die Verarbeitung von Kriegsthemen in der Kunst, speziell der audiovisuellen Kunst, also Filmen und Games, die Kriegsbebilderung im 21. Jahrhundert kennzeichnet.

Denken wir an den Vietnam-Krieg, fällt uns vielleicht als erstes das bekannte Foto vom „Napalm Girl“ ein. Beim D-Day? Vielleicht Der Soldat James Ryan. Erster Weltkrieg? Die erste Verfilmung von Im Westen nichts Neues oder doch die neue deutsche aus dem vorletzten Jahr. Als Letterboxd-Nutzer ist es vielleicht der Schrecken von Elem Klimovs Come and See, der uns als erstes vor dem geistigen Auge erscheint. Ein Bild, an das wir vermutlich nicht denken, ist das Foto eines verbrannten irakischen Mannes, aufgenommen von Kenneth Jarecke während des Golfkrieges in der Hoffnung, es würde die naive amerikanische Rezeption des Krieges als „Video-Game War“, geprägt durch Bilder von Nachtsichtgeräten und Präzisionsbombardements, aufbrechen. Die Presse entschied sich aber dagegen, das Bild zu veröffentlichen, und die Wirkung blieb somit aus. Was diese Beispiele aufzeigen, so unterschiedlich sie hinsichtlich ihrer moralischen, künstlerischen und dokumentarischen Qualitäten auch sein mögen, ist dies: All diese Bilder sind nicht „der Krieg“, sie sind nur Auszüge, enthalten Leerstellen, werden nach bestimmten Parametern aufgenommen und verbreitet, können manipulieren, emotionalisieren. Dass Civil War nun nicht als ein weiteres Bild in dieser Reihe von Kriegsbildern zu verstehen ist, wurde mir in einer Szene klar, die sich nach etwa einer 45 Minuten innerhalb des Films entfaltet.

Kriegsfoto: Napalm Girl von Nick Ut

Bis dahin sieht man schon allerlei Motive aus der klassischen Ikonografie der Krisenberichterstattung und -kunst: Eine Selbstmordattentäterin, die mit einer Fahne in der Hand in eine Menschenmenge rennt, Geschosse, die den Nachthimmel erhellen, Soldaten, die bei lebendigem Leibe verbrennen, und nun eben eine bewaffnete Soldatengruppe, die sich mit Maschinengewehren im Anschlag ein Treppenhaus empor tastet. Szenen, die Grausamkeit mit Hollywood-Suspense kombinieren und, die moralischen Implikationen mal beiseitegelassen, auch tatsächlich ziemlich spannend sind. Oben angekommen, erschießen sie schließlich einen verwundeten, kapitulierenden Soldaten der sogenannten Gegenseite. So „zynisch-realistisch“, so normal. Dann aber entscheidet sich Garland für einen inszenatorischen Bruch. Nachdem die Spannung abklingt, ertönen viel zu laut und unpassend die ersten gescratchten Takte von De La Souls 90s-Rap-Klassiker „Say No Go“. In Kontrast zu dem „Realismus“ der Szene zuvor, zeigt Garland uns jetzt eine Montage, die zwischen lässig feiernden Soldaten und der Exekutionen von weiteren Soldaten in Zeitlupe hin- und herschaltet. Es ist ein so starker und unpassender Kontrast zwischen den beiden Sequenzen, dass der Bruch unweigerlich auf die Künstlichkeit, die Stilisiertheit der gezeigten Bilder hinweist und den Zuschauer aus seiner Pseudo-Immersion herausreißt.

„Das hier sind nur Bilder, die ich dir in einem Kino präsentiere, ich suche die Bilder aus, die hier gezeigt werden, entscheide wie alles geschnitten wird, unterlege das mit der Musik, die genau die Emotionen hervorruft, von denen ich möchte, dass du sie hast“, scheint Garlands Film zu rufen. „Jetzt sollst du gespannt diesen Soldaten durch das Treppenhaus folgen, vielleicht etwas Angst haben, jetzt, zwei Minuten später, fühlst du die Lässigkeit einer Szene, wie du sie vielleicht aus stilisierten Vietnamskriegsdarstellungen wie in Apocalypse Now kennst. Und nichts davon wird real sein, alles nur Kunst.“ Civil War zeigt nicht Bilder des Krieges, er zeigt Variationen der Bilder, die wir mit Krieg verbinden, und kontrastiert sie, um zu sagen: Authentisch ist nichts hiervon.

In dieser Szene hat Civil War für mich geklickt. Etwas später dann, folgt wieder ein ähnlicher Bruch. Der aus dem Trailer bekannte, von Jesse Plemons gespielte Soldat erschießt da in einer spannungsgeladenen, gritty-realistischen Szene mehrere Journalisten, einer von ihnen, er fährt den Fluchtwagen, wird auf der Flucht angeschossen. Cut. Das Auto fährt durch brennende Waldlandschaften, Sturgill Simpsons moderner Country tönt, psychedelische Bilder. Nichts mehr übrig von dem Realismus aus der Szene zuvor. Ob diese Brüche von Alex Garland beabsichtigt sind, ist unklar, aber sie sind da. Und führen dadurch eine Reflexionsebene in den Film ein, durch die dieser mehr zu einer Studie der Bilderwelten des Krieges wird als ein Kriegsfilm. Die Bilder selbst sind sicher die un-Garlandigsten, die wir von dem Regisseur bisher gesehen haben. Doch auch wenn das alles hier kaum etwas mit den durchgestylten, ruhigen, manchmal fast spirituellen Bildern von Ex Machina, Devs oder Annihilation zu tun hat, erinnert mich das alles genauso wenig an den grimmigen Realismus moderner Kriegsfilme wie Im Westen nichts Neues. Für mich ist es ein völlig anderes Garland-Werk, das der engste inszenatorische Verwandte von Civil War ist: Danny Boyles mittlerweile 22 Jahre alter Zombie-Horrorfilm 28 Days Later, für den Alex Garland das Drehbuch geschrieben hat.

Von 28 Days Later zu Civil War

Beiden Filmen ist ihre apokalyptische Grundstimmung eigen, nur dass wir in Civil War kurz vor dem Untergang stehen und ihn in 28 Days Later bereits durchschritten haben. Aufnahmen von verlassenen Fahrzeugen auf Autobahnen, verwahrlosende Städte, die von der Kamera geisterhaft am Horizont eingefangen werden, die wackligen Kameraaufnahmen sobald Bewegung in die Massen (von Zombies oder eben Bürgerkriegsbeteiligten) kommt, das ist die Ikonografie beider Filme. Das bekannteste musikalische Motiv aus Boyles melancholischem, verlassenem London ist das „Sad Mafioso“-Movement aus Godspeed You! Black Emperors „East Hastings“, ein apokalyptisches Klagelied auf eine längst untergegangene Zivilisation. Regisseur Danny Boyle erklärte damals in einem Interview, er habe immer einen bestimmten Song oder Sound im Kopf, zu dem er seine Filme dreht. Zu Trainspotting sei das der fluoreszierende Techno von Underworld gewesen und bei 28 Days Later eben die apokalyptischen Klanglandschaften des kanadischen Musiker*innenkollektivs. Civil War wirkt so, als hätte sich Alex Garland diese Methode zu eigen gemacht und sich die der Hölle näher als dem Leben stehenden düster-hypnotischen Sounds des New Yorker Synth-Punk-Duos Suicide als Taktgeber für seine sich noch in der Entfaltung begriffene Apokalypse zu eigen gemacht. Wenn die vier Journalisten New York verlassen und auf den verlassenen Highway einbiegen, hätte diese Szene wohl eins zu eins aus 28 Days Later stammen können, würde da das Godspeed You! Black Emperor-inspirierte Post-Rock-Theme von John Murphy laufen und nicht, wie im Film der Fall, die todestripartigen stampfenden Beats von Suicides „Rocket USA“.

Es sind aber nicht nur einzelne Bilder, die an Garlands Drehbuchdebüt erinnern, es ist der gesamte Aufbau des Films, der in beiden Werken eine Art apokalyptischer Roadtrip durch untergehende Welten ist. Bewaffnete Milizionäre, die Tankstellen verteidigen und Plünderer aufhängen, verlassene Häuser, die von Scharfschützen verteidigt werden und am Ende berauschte Protagonist*innen, die wie unter einer Speed-induzierten Hypnose, durch die Flure herrschaftlicher Häuser schlafwandeln. Das sind alles Szenerien, die eigentlich austauschbar in beiden Filmen vorkommen könnten, ohne deplatziert zu wirken. Und in beiden Filmen sind es genau die Menschen, die im Angesicht des Untergangs jedes Vertrauen ihre Mitmenschen verloren haben, von denen die größte Gefahr ausgeht. Während es aber in der Post-Apokalypse von 28 Days Later völlig klar ist, dass die Frage, die gestellt wird, keine weltanschauliche ist, sondern nur noch eine des Überlebens, wird genau das in Civil War zum Kritikpunkt.

Links: 28 Days Later, Rechts: Civil War

In seinem Klassiker der modernen Konfliktforschung The Logic of Violence in Civil Wars legt Stathis Kalyvas allerdings dar, dass genau diese bei Civil War kritisierte Abwesenheit von politisch-weltanschaulich motivierten Konfliktlinien vermutlich ziemlich nahe an der Realität ist. Er argumentiert, dass die meisten Menschen das Ausmaß, in dem Muster von Gewalt in Bürgerkriegen von Ideologie oder ausufernden Emotionen getrieben werden, überschätzen. Stattdessen behauptet Kalyvas, dass individuelle Entscheidungen oft auf rationalen Selbstinteressen beruhen – beginnend mit dem Überleben. Garlands Film scheint im Geiste dieser These gedreht zu sein. In einer Szene eröffnet ein Scharfschütze das Feuer auf das Auto der Reporter und zwingt sie, sich neben zwei Soldaten zu verschanzen, die er ebenfalls angegriffen hat. Als die Reporter die Soldaten fragen, auf welcher Seite sich alle befinden, belächeln sie das – und erklären, dass er versucht, sie zu töten, und das ist alles, was zählt.

Obwohl Civil War für mich, wie oben versucht zu ergründen, ein Film ist, der sich weniger für eine „realistische“ Darstellung der politischen Konflikte unserer Gegenwart interessiert, sondern sich vielmehr mit den Bildern auseinandersetzt, die westliche Gesellschaften von diesen Konflikten haben, hat er am Ende gerade in seinem Aussparen von weltanschaulichen Polarisationspunkten eine Nähe zur Realität, die ihm als bloßes Vehikel aller möglichen politischen Gegenwartsdiskurse ironischerweise abhandengekommen wäre.

Civil War has little to say about America” lautet der Titel des (sehr guten) Textes zum Film von Zack Beauchamp, erschienen bei Vox. Ja, das stimmt. Und es scheint mir, dass genau dieser Umstand bei der Rezeption des Films, besonders in den USA, dem größten kollektiven Narzissten der Weltbühne, bloß als Anlass zu Kritik genommen wird, anstatt genau diesen Umstand als Inspiration zu sehen, um endlich mal wieder über sich selbst hinauszudenken, vielleicht gar universell zu denken.

Der vollständige Titel des Vox-Textes lautet übrigens „Civil War has little to say about America — but a lot to say about war”. And that’s that.

Soundexegese vesus Gedichtanalyse: Über Klang schreiben

Letzte Woche war ich im Hamburger Mojo-Club, wo DIIV gespielt haben. DIIV ist eine US-amerikanische Band, die von Zachary Cole Smith als Mastermind und Strippenzieher vor mehr als 10 Jahren gegründet wurde und mit Oshin ihr großartiges Debüt veröffentlicht hat. Mit ihrem letzten Album Deceiver sind sie aber endgültig in Richtung des Genres abgebogen, das schon immer durch ihre Songs schimmerte: Shoegaze. Inzwischen schreiben sie ihre Musik demokratisch als Kollektiv, und das Ergebnis ist wunderbare, honigwabenartige Gitarrenmusik, die innerhalb der zwei großen Kirchen des Shoegaze der Tradition des Noise von My Bloody Valentine näher steht als dem Dream von Slowdive. Die Gitarrensignale werden durch zahlreiche Effektgeräte gezirkelt, bis sie extraterristischen Signalen näher stehen als sogenannter ‚handgemachter‘ Rockmusik. Der Hall ist auf Endlosschleife hochgeregelt, und die Stimme – das soll für diesen Text zentral sein – wabert irgendwo als zarter Hall in den Hintergrund gemischt vor sich hin. Die Lyrics sind nicht irrelevant, aber spielen eine untergeordnete Rolle. Sie sind keine Poesie im engeren Sinne, sondern atmosphärische Zeichen, die den Sound vertiefen. Also das Gegenteil von einem großen Teil melancholischer Popmusik, in der zuerst die Textzeile über das Verlassenwerden steht und dann zwei, drei Mollakkorde folgen, um dem Wort ‚Tiefe‘ zu verleihen.

Nach dem (nebenbei bemerkt: fantastischen – aber das soll kein Konzertreport werden) Konzert tauchten die Menschen aus ihrem soundwallartigen K-Hole wieder auf, und der Club leerte sich langsam. Erste Eindrücke verbalisierten sich in der Luft. Zufriedenheit. Nur eine Kritik gab es: Das Mikrofon, also der Gesang, also die Lyrics, die wären zu leise gewesen. Man hätte nichts verstehen können. Diese im Vorbeigehen aufgeschnappten Zeilen blieben bei mir hängen. Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, dass man bei einem Shoegaze-Konzert ausgerechnet die Klarheit der Vocals vermissen könnte, inmitten der außerkörperlichen Erfahrung einer Wall of Sound, die sich um einen legt, wie eine warme, verschwommene Umarmung. Aber für so viele Menschen scheint der Text eines Songs so etwas wie seine Essenz, sein schwirrendes Zentrum, zu sein, um das der Klang zu kreisen hat wie Planeten um ihren Stern. Warum nur hat kein Liebespaar seinen typischen ‚Unser Song‘-Moment, beim Hören eines Sounds? Warum passiert das immer bei einer Textzeile? „To die by your side is such a heavenly way to die.“ Dabei gäbe es doch wenig Schöneres als es zu fühlen, während sich die Euphorie bahnbrechend in dem Moment, wenn in Fishmans Long Season nach knapp zweieinhalb Minuten das Piano einsetzt.

Sound versus Lyrics

Die Frage nach dem Verhältnis von Sound und Text in der Popmusik und auch in der Musikkritik interessiert mich schon länger. Etwas so Abstraktes wie die Wirkung von Sound und Klang in die konkrete Form des Wortes zu gießen, ohne dass dabei so etwas wie die Essenz verloren geht, ist schwierig. Schiefgehen kann vieles. Texte über Musik, die eigentlich nur ein subjektivistischen Abgleich der Lyrics mit den eigenen Befindlichkeiten durchführen und dabei, was den Sound angeht, höchstens noch den Stil des Gesangs oder gar nur der Stimme miteinbeziehen. Das ist der Hörer von “Your Deep Rest” von The Hotelier, der auf dem Schmerz in der Stimme von Christian Holden verweist, wenn sie in einem karthatischen Moment mit brechender Stimme “I called in sick from your funeral” schreit. Denn den Schmerz habe man als 20-Jähriger schließlich selbst verspürt.

Trostloser noch wird es, wenn man sich die sogenannte politische Musik anschaut. Die Exegese geht dann nicht selten nur noch so: Man liest den Text eines Songs und schaut, ob dieser mit dem zusammenpasst, was man irgendwo während irgendeines wahlweise Soziologie- oder Geschichtsseminars aufgeschnappt hat. Dann referenziert ein Lyricfetzen in einem fuchtbaren Beispiel politischer Nicht-Musik wie Danger Dans “Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt” plötzlich schon mal auf “intelligente Weise” die Dialektik der Aufklärung – und das soll dann auch noch etwas Gutes sein. Und am Ende wollen sie einen überreden, Billy Bragg nicht grässlich zu finden. Manchmal frage ich mich, was solche Kritiker über einen Song wie “Mladic”, mutmaßlich benannt nach dem bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher gleichen Namens, von Godspeed You! Black Emperor schreiben würden. Denn das ist politische Musik, die sich nur durch ihren Sound, ganz ohne Text und ohne Vocals-Samples, in 20 wütenden Minuten in ein politisches, apokalyptisches Wutgefühl hineineskaliert, wie es keine andere Kunstform in dieser Form (und darum geht es) vermag. “I’d punch a Nazi to Mladic” schrieb ein User auf Reddit – und wer einmal hört, wird es fühlen.

Natürlich gibt es auch unzählige Texte, in denen Autor*innen Worte finden, die Musik als Sound auf eine Weise erfassen, die so gut ist, so perfekt passende Bilder in meinem Kopf produziert, dass ein Hören der Alben, ohne diese textförmigen Begleitbilder, für mich unmöglich wird. Aphex Twins Selected Ambient Works Vol. II wurde mal von Richard D. James selbst perfekt mit “standing in a power station on acid” umschrieben. Wer einmal die schimmerig-sirrenden Klanglandschaften, die James dort aufbaut durchschritten hat und nach Worten ringt, wird sich vermutlich in genau dieser Umschreibung verstanden fühlen. Oder Mark Fishers Gedanken zu der “unheiligen Dreifaltigkeit” von The Cure – gemeint sind die drei aufeinander folgenden Alben Seventeen Seconds, Faith und Pornography. Über das in diesem Dreigestirn tendenziell am wenigsten besprochene mittlere Album schreibt Fisher, die Lieder klängen “nicht still, sondern beruhigt, schwer wie ein Downer; nicht ozeanisch, sondern durchtränkt wie ein Sumpf”. Faith scheine “von einem anderen Planeten zu kommen, wo die Gravitation schwerer wiegt”. Dieser Text hat das Album in meiner Rezeption um Dimensionen verschönert und, soweit würde ich gehen, überhaupt erst den Raum geschaffen, in dem es mittlerweile zum für mich besten Werk der Band und einem meiner liebsten Alben generell heranreifen konnte.

Der Möglichkeitsraum, das Werkzeug, das alles liegt schon da. Und wird doch, das zumindest ist mein Eindruck beim Lesen vieler Texte über Musik, meist genutzt, um Klänge umzuschnitzen in Gedichte, anstatt ihnen ihre Anders- und Einzigartigkeit zuzugestehen. Gedichtanalyse statt Soundexegese.

More Brillant Than the Sun

In seinem musikbewusstseinserweiternden Buch More Brilliant Than the Sun (oder in der genialen Übersetzung von Dietmar Dath: Heller als die Sonne) schreibt der britische Kulturtheoretiker und Künstler Kodwo Eshun über die Verbindung zwischen Afrofuturismus, Science Fiction und schwarzer elektronischer Musik. Eshun erkundet in seinem Buch, wie die afrikanische Diasporakultur eine soundästhetische Revolution in Gang setzt, die herkömmliche Grenzen sprengt und eine futuristische Klanglandschaft erschafft. Dieser Analyse vorangestellt ist allerdings eine Kritik am (weißen) Gegenwartsmusikjournalismus, in der er auch die Bevorzugung des Songtextes über den Klang adressiert:

Seit den 80er Jahren hat sich die britische Mainstream-Musikpresse der schwarzen Musik höchstens zur Erholung und zum Ausspannen von den Komplexitäten der weißen Gitarrenrockmusik zugewandt. In dieser lächerlichen, auf den Kopf gestellten Welt bleibt es Gitarren vorbehalten, den Zeitgeist auszudrücken, während die Rhythmaschine in retardierter Unschuld gefangengehalten wird. Ein Songtext bedeutet stets mehr als ein Sound. Die Texte zu theoretisieren ist gestattet, aber den Groove zu analysieren hieße angeblich den körperlichen Genuss zu vernichten, dem Groove die Essenz auszupressen.

Kodwo’s Buch liefert neben der Kritik am schreiberischen Konsens mit der Erfindung zahlreicher Neologismen auch gleich noch das Vokabular mit, um endlich anders über Musik nachdenken zu können. Da werden Beats zu Futurhythmaschinen, der US-amerikanische elektronische Jazz zwischen 1968 und 1975 zu afrodelischen Weltraumprogrammen oder George Russels Electronic Sonata for Souls Loves by Nature als panstilistische Fragmentmusik gedeutet. Alles geht, solange die neue Sprache eine Annäherung an den Sound ermöglicht. Ein anderes Hören. Ich persönlich habe mehrere Anläufe, egal ob auf Englisch oder Deutsch, gebraucht, um Eshuns Werk zu bezwingen. Das lag einfach daran, dass die Art, in der da versucht wird, über Musik und Kultur nachzudenken, nicht nur anders schmeckt als die Speisen, die sonst serviert werden, sondern gleich einen völlig anderen Aggregatzustand hat. Man fühlt sich zunächst wie ein Mann mit einem Löffel in einer Welt voller Suppe (Noel Gallagher beschrieb so einmal seinen Bruder Liam. Und auch, wenn ich sonst kein großer Oasis-, geschweige denn Gallagher-Gossip-Fan bin, muss ich im Alltag oft an diesen Satz denken). Und dann lernte ich die Sprache, später verstand ich. Zumindest ein wenig. So schwierig und theoretisch komplex Eshuns Werk für mich war, wünsche ich mir doch mehr von solchen Wagnissen und Experimenten zu finden auf meinen Streifzügen durch die popkulturellen Landschaften.

Leerstellen für Fantasie

More Brilliant Than the Sun war einer dieser Momente, in denen ich erstmals das Gefühl hatte, etwas in konkrete Worte gegossen zu sehen, das sich für mich schon lange wie eine abstrakte Dissonanz zwischen meinem und dem Musikhören der meisten meiner Freund*innen anfühlte, aber von mir nie so richtig auf den Punkt artikuliert werden konnte wie von Kodwo Eshun. Dieser Fokus auf die Lyrics, den ich – auch wenn Eshun natürlich aus einer anderen Richtung kommt und viel weiter geht – nie wirklich gefühlt habe. Englisch ist nicht meine Muttersprache, und das Hören von englischsprachiger Musik war für mich dementsprechend ein ausschließlich auditiver Prozess. Meine Mutter hatte irgendwann einmal – ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt – Room on Fire von den Strokes und Jimmy Eat Worlds Clarity als gebrannte, unbeschriftete (ich wusste also jahrelang nicht mal annähernd, was ich da hörte) CDs von einem Freund geschenkt bekommen. Das waren meine beiden Lieblingsalben, und ich verstand: Nichts. Aber fühlte alles – nur über den Sound (einige Zeit später wurden sie dann von der Eminem Show abgelöst. Und auch da verstand ich natürlich weiterhin nichts). Ich weiß heute immer noch nicht, um was genau es in „12:51“ geht, aber bin mir sicher, dass es in dieser coolen, wie beiläufig performten Art mein Lieblingssong von den Strokes ist. Und bis heute liebe ich diesen Zwischenzustand des Nicht-ganz-Verstehens und habe umgekehrt oft das Gefühl, dass eine allzu große Kenntnis der meisten Songtexte die Musik für mich eher verzwergt, als sie zu erweitern.

Deshalb stört es mich nicht nur nicht, bei einem DIIV-Konzert die Lyrics nicht zu verstehen, ich finde das sogar gut (lustigerweise gab es in der ansonsten atmosphärisch-verwaschenen Lichtshow zwischendurch auch Passagen, in denen die Lyrics der neuen Songs karaokemaschinenartig eingebunden wurden. Das waren nicht die elegantesten Momente). Erst die Leerstellen lassen das Licht hinein und laden ein in Gitarrenwände, die stets drohen, die gehauchten Vocals zu verschlingen, zu versinken.

Playlist zum Text:

Zeit aufzuhören, Zeit anzufangen

Eigentlich sollte das hier ein Jahresrückblick werden, aber nun ist es ein Text über mich und meine popkulturelle Überforderung. Fluchtversuche und Entzug inklusive.*

*ein paar Empfehlungen gibt es aber natürlich trotzdem.

Vermutlich ist es keine besonders kontroverse Meinung, die Tage zwischen den Jahren für einige der schönsten in fast jedem Jahr zu halten. Die Weichnachtstage sind vorbei, man fühlt sich vielleicht etwas leer, etwas melancholisch, post shakey times sad. Aber irgendwo auch glücklich. Die Gesellschaft steht zwar nicht still, wird aber doch um ein, zwei Gänge heruntergefahren. Und diejenigen, die das Glück haben, sich in den wenigen Tagen bis zum Jahreswechsel mal nicht am Arbeitsplatz vernutzen lassen zu müssen, haben vor allem eines: Ein kleinwenig Zeit.

Schon seit Jahren versuche ich mir diese Zeit zu nehmen. Für mich selbst, für etwas Seelen-Inventur, ein kleines bisschen Resümee-Ziehen, für die ungelesenen Bücher, eingepackten Filme, für die Wahlfamilie, sprich Freund*innen, die in diesen Tagen meist auch etwas mehr Zeit haben als sonst so. Für mich fühlt sich das nach Freiheit an. Nicht nur von den ganzen Terminen, dem Immer-ist-irgendwas, dieser „zermürbenden Tortur zwischen Langeweile und Hektik, Überstunden und Arbeitslosigkeit“ (Dietmar Dath), die wir Gegenwart nennen, sondern auch von der popkulturellen Überforderung, die mich anstrengt und überfordert. Einfach wirklich mal freier sein in dem Sinne, dass man tatsächlich mehr tun und denken kann, als das im vereinsamenden Strom der Informationsüberflutung und Arbeitszyklen sonst möglich ist.

Das mag sich für andere nicht so anfühlen und vielleicht auch irgendwo ein Privileg sein, aber so sieht es für mich aus. Und andere Perspektiven gibt es auf diesem kleinen Blog nicht.

Pop Culture Doomscrolling

2022 war für mich persönlich etwas besser sein Vorgänger. Sprich: Die Probleme und Sorgenquellen waren etwas schönere, vielleicht waren es sogar ein paar weniger (ganz persönlich betrachtet und die Weltlage mal ausgeklammert). Wirklich gut geht es mir aber nicht. Aber das gilt aktuell irgendwo für fast alle, glaube ich. Richtig glücklich scheint hier niemand zu sein, ein paar merken es nur nicht mehr. Unterm Strich waren wir alle viel zu müde. Trotzdem: Die Krisen im letzten Jahr waren für mich selbst existenzieller, sprich: unzählige Krankhausbesuche, kaputte Beziehungen, verblassende Freundschaften. Dieses Jahr hatte ich nun das Privileg, die Problemfelder wieder mehr in mich hinein verschieben zu können, die externen Schocks blieben aus. Möglichkeit also, sich zu fragen, wieso das alles die ganze Zeit über so verdammt anstrengend sein muss. Und damit meine ich auch mein Verhältnis zur Kunst und zur Popkultur. Also zu dem ganzen Zeugs, dass mir die Welt bedeutet und ziemlich viel von dem ist, was ich als Ich so bin.

Schon lange hat sich genau hier eine diffuse Form von Unzufriedenheit breitgemacht. Schlimmer noch: von Gleichgültigkeit. Das Gefühl, dass ich durch die kulturellen Neuerscheinungen der Woche genauso desinteressiert hindurchbrowse, wie durch die Twitter-Feeds, in denen genau diese Kunstwerke in Überlichtgeschwindigkeit diskutiert und wieder verworfen werden. In diesem typischen distanziert-coolen, vermemeten und brutal-ironischen Sound, den ich schon lange kaum noch ertragen kann und der nichts Aufrichtiges, Wahrhaftiges oder Schönes in sich trägt und keinen Zentimeter Platz lässt für irgendwelche Formen von Verletzlichkeit und Empathie. Alles ist witzig, niemand hat Spaß. Ironie als der Gesang eines Vogels, der seinen Käfig zu lieben gelernt hat. Der ganze Distinktionsscheiß. Fuck off. Wo waren wir?

Klar: Das alles ist Twitter. Da bin ich heutzutage (früher war irgendwie weniger unerträglich in meiner Timeline) nicht mehr so richtig freiwillig, sondern eher aus den gleichen Gründen, aus denen ich 200 Mal am Tag auf mein Handy schaue und mich so verhalte, als wäre es wirklich wichtig was diese Woche in der fucking Tagesschau gedropped wird. Also irgendwas mit Konditionierung, Dopaminausschüttung und vor allem: Zwanghaftem Up-to-Date-sein.

(Nicht mehr) Verstehen durch Pop

Pop und Kultur waren für mich nicht nur (aber natürlich auch) Unterhaltung und Ästhetik, sondern immer auch Wege, etwas mehr von unserer Gesellschaft und Gegenwart zu verstehen. Klar, so gesprochen ist das irgendwo eine soziologische und ideologiekritische Trivialität, aber das meine ich hier eigentlich eher nicht. Oder zumindest nicht nur das. Ich ziele da auch auf eine viel intuitivere, affektivere Ebene jenseits der Akademie ab. Popkultur hat mir immer geholfen eine interessantere, intensivere und irgendwo auch schönere Verbindung herzustellen zu der Zeit in der und den Menschen mit denen ich hier zusammen existiere. Das ist auch der Grund dafür, dass ich in mir dieses starke Bedürfnis verspüre „mitzuhalten“. Zu wissen, was im Pop grad passiert, was auf heute gerade Twitter zirkuliert, welche Alben am Freitag released werden, das alles. Wenig bereitet mir ganz persönlich und individuell mehr Grusel als all diese Mittzwanziger-Menschen in meinem Alter, die gerade anfangen stellenweise die Verbindungen zur Gegenwartskultur zu kappen. Die nur noch wenige Schritte entfernt sind von diesem „Früher war alles besser und interessanter“-Vibe, der ausschließlich von Personen ausgestrahlt wird, die irgendwann mal unterbewusst beschlossen haben: That’s it. Diese zehn Bands und acht Alben bis zum Tod. Die Zukunft als Rückzug in eine endlose Verlängerung eines bestimmten Punktes in der Gegenwart. The Horror.

In unserer sich weiter und weiter beschleunigenden Gegenwart ist diese Veranlagung Up-to-Date zu bleiben – etwas, das ich an mir grundsätzlich eher mag – immer mehr zu meinem Problem geworden. Gefühlt geht es ja vielen so. Viele leiden, fühlen sich von dem Zwang erdrückt, immer und überall dabei sein zu müssen. Jeden Tag gibt es einen neuen „Song des Jahres“, einen neuen Mikrotrend auf Tik Tok, eine neue ganze okaye soon-to-be-forgotten Serie, die irgendwie und irgendwo wochenlang durch die Feeds zirkuliert. Tik Tok, Twitter, Letterboxd, der ganze Quatsch. Das alles ist von der Plattforminfrastruktur natürlich genauso gebaut, dass es jede kleine Saat von Fomo, die irgendwo mal angelegt war, zu prächtig sprießenden Dschungeln hochkultiviert. I know, Medienanalyse like it’s 2014, aber so richtig mit beschäftigen und ein bisschen reflektieren, das ging bei mir erst in 2022 mal so wirklich – auch wenn diese Dynamiken meine Liebe zu Kunst und Kultur natürlich schon seit langem mit kleinen Rissen versehen haben. 2022 (oder besser gesagt: in den letzten Monaten des Jahres) wurde dann aus vielen kleinen Rissen ein Bruch. Leicht verzweifelte Rettungsmaßnahmen inklusive.

Und Entzug. Das ist eigentlich das passende Wort. Denn so richtig bewusste Entscheidungen treffe ich nur noch selten, vieles fühlt sich eher suchtgeleitet an. Fast alles wird mir von Algorithmen serviert und in einer Fülle, dass selbst die schönsten Gerichte auf dem Tisch irgendwann nur Gefühle von Überfressen und Übelkeit auslösen. Es ist zu viel. Dabei waren Begegnungen mit Kunst für mich eigentlich immer dann besonders schön und erfüllend, wenn sie spontan, unerwartet und vielleicht sogar etwas zufällig stattfanden. Kaum etwas löst in diesem Dschungel aus Signalen heute noch ein Gefühl aus wie damals, als ich vor Jahren irgendwann mal – Scorsese-Fan der ich war – ins Blinde hinein eine Komplettbox von Die Sopranos aus dem Secondladen-Laden mit nach Hause genommen habe (weil „bestimmt irgendwas Cooles mit Mafia“) und meine Welt danach nicht mehr die gleiche war. Hat sich früher vieles für mich spontan, organisch und aus meinem Eigenantrieb heraus ergeben, ist mein Gefühl heute – in der Liebe wie in der Kunst – jeden Tag und komplett algorithmisiert in mittelmäßige Blind-Dates hineinmanövriert zu werden – von Unternehmen, deren Profit davon abhängt, möglichst viele Leute möglichst oft algorithmisiert auf mittelmäßige Blind-Dates zu schicken. Es ist so ermüdend.

Aufhören mitzuhalten

Inzwischen habe ich alle meine Streaming-Services gekündigt und stattdessen einen vernünftigen VPN-Client abonniert. Mein Twitter-Feed ist so stark ausgedünnt, dass ich dort tatsächlich wieder interessante Dinge finde und mein Gehirn auch noch die Kapazität hat, um damit irgendwas anzufangen. Musik höre ich am liebsten mit meinem IPod-Classic, kuratiert und mit einem Gerät, das nur eine Funktion hat und mich nicht noch mit 7 Pop-Up-Nachrichten dazu verleitet, irgendwas anderes zu tun während ich grad versuche meine liebe zu Popmusik zurück zu erkämpfen. Dass ich nun aufhöre, mich mit dem zu beschäftigen, was in meiner Zeit passiert, und den erschöpften Rückzug antrete, heißt all das aber genau nicht. Hoffentlich. Für mich fühlt es sich sowieso anders an. Wenn ich 400 neue Alben im Jahr höre, 100 Filme sehe, 40  Serien schaue, dann ist das für mich keine intensive Beschäftigung mit Gegenwartskultur, sondern der sichere Weg, mich mit überhaupt nichts mehr so wirklich beschäftigten. Vielleicht werden die Spotify-Wrappes weniger angebertauglich, sehen die Letterboxd-Recaps weniger fancy aus. I don’t know. In Wahrheit kann sowieso niemand 100 Bücher im Jahr lesen, auch wenn das auf Goodreads steht – also zumindest nicht wirklich lesen. Für jeden langen Text über ein Album, dass jemandem wirklich etwas bedeutet, verbrenne ich hunderte immergleiche Year-End-Lists mit ihren 50 oder 100 Einträgen, die nichts als Infodumping sind. Ich will das alles nicht mehr lesen. Will nicht mehr das Gefühl haben, dass die Beschäftigung mit Kunst sich für mich anfühlt wie ein Game, das es nicht zu verlieren gilt.

Escape exhaustion, restart excitement

Daher ist dieser Fluchtversuch eigentlich auch gar keiner, sondern eher ein Weg zurück, um endlich wieder überhaupt noch – stay in the meme – irgendwas zu spüren. Das Resultat ist nicht Kontaktverlust, sondern die sich für mich extrem wohltuend anfühlende Entwicklung, dass ich zu den besten und schönsten Kunstwerken des Jahres überhaupt mal wieder wirklich was zu sagen hätte und mir der Krams, in den ich eintauche, endlich wieder tatsächlich etwas bedeutet.

Natürlich kann ich dir sagen, warum das neue Album von Rosalía, dieses Werk, das in kreativer Hinsicht über alles hinaus geht, das ich in den letzten Jahren gehört habe, so verdammt großartig ist. Ich kann dir sagen, dass das im wortwörtlichen Sinne Weltmusik ist – 1000 Einflüsse, 1000 Ideen, 1000 Sounds – und dass dabei immer alles im Fluss bleibt. Und dass Genregrenzen eingesargt werden und man da die beste Produktion und den schönsten Gesang der Welt finden kann.

Aber genauso kann ich dir auf 1000 neue Arten erklären (keine Sorge, ich tue es nicht), wieso es auch bis heute nie eine bessere Serie, als die bereits gedroppten Sopranos gegeben hat (I know, ein sehr origineller Take, aber who cares?). Denn die habe ich in diesem Jahr, losgelöst von allen Diskursen und Aktualitätszwängen, auch nochmal in Ruhe gesehen. Dazu habe ich mir das wunderbare und allen, die auch irgendwie mit gutem Culture Writing connecten können, hiermit empfohlene Buch The Sopranos Sessions von Alan Sepinwall und Matt Zoller Seitz gelesen. Darin gibt es superspannende Interviews mit David Chase, vor allem aber auch tiefe Analysen zu jeder einzelnen Episode, die das genaue Gegenteil sind von all den unsäglichen, schlecht geschriebenen Recaps, die man zu jeder Mistserie über das ganze Internet verteilt findet und die vielleicht so symptomatisch sind für die Probleme, die ich hier umkreise, wie kaum etwas anderes. Nach jeder Episode habe ich das passende Kapitel gelesen, mir Notizen gemacht, versucht Verbindungen herzustellen. Es war mit die schönste Zeit, die ich in diesem Jahr popkulturell erlebt habe.

Am wichtigsten aber sind vielleicht sogar die Dinge, die ich vorüberziehen lasse. Nichts stimmt mich optimistischer als das, was ich beruhigt verpasst habe. Ich kann es kaum erwarten euch nie, aber auch wirklich niemals erklären zu können, was in Avatar 2: Way of the Water oder Amsterdam passiert und ob das neue Album von Harry Styles irgendetwas Interessantes in sich trägt.

Das wars. Wenn irgendwer bis hierhin durchgehalten hat: Glückwunsch, ich hoffe, es hat dir irgendwas gebracht. Vermutlich ist wenig bis gar nichts an diesem Text wirklich originell oder neu oder State of the Art-Diskurs. Darum soll es hier ohnehin nicht gehen, das ist nur mein kleiner Blog, die redaktionell betreuten und von äußeren Zwängen und Konventionen geformten Texte veröffentliche ich lieber weiterhin in anderen Medien. Aber vielleicht fühlt es sich ja auch ohne den ganz großen Erkenntnisgewinn gut an, wenn man sieht und liest, dass man nicht ganz allein durchdreht, sondern es anderen oft ganz genauso geht. Und man nichts dafür kann. Zumindest mir geht es oft so.

Ich wünsche euch ein schönes Jahr 2023. Vielleicht ja mit einigen meiner kleinen Empfehlungen aus diesem Jahr, die jetzt noch folgen. Denn das ist für mich Kultur und Kunst, die wirklich zählt. Die mein Jahr und Sein bereichert hat, wie kaum etwas anderes, und die auch im nächsten Jahr künstlerisch relevant sein wird. Auch dann, wenn sich mit ihr in den aktuellen Grabenkämpfen auf Twitter, diesem Laden, „der zu nichts anderem da ist als zur suchterzeugenden Fabrikation, Vervielfältigung und Weiterverarbeitung finster-klebriger Erregungsschmiere“ (Dietmar Dath), keine großen Distinktionssiege mehr erreichen lassen.

Hoffentlich geht es euch allen ungefähr so gut, wie das aktuell eben so möglich ist.